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AMA / D2
SAISON 2019 / 2020

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SV Altlüdersdorf Allianz D-Juniors Cup 20200

1. Platz

Eine neuere Theorie der Unendlichkeit besagt, dass man zum Ausgangspunkt seiner Reise zurückkehrt, wenn man das All nur lange genug in einer Richtung durchmisst. Das Universum hätte demnach eine Kugelgestalt.

Ich könnte unendlich lang über das Verhältnis von Zeit und Raum schwadronieren. Besser gesagt über die Formen des Wahrnehmens von Zeit und Raum. Es kann kein Zufall sein, dass eine Stunde nicht immer gleich einer Stunde ist. So erinnere ich mich gut an den Abend, als ich Andrei Tarkowskis Stalker zum ersten Mal im Kino sah. Das KoKi, das Kommunale Kino in Hannover, war Mitte der 90er Jahre nicht unbedingt ein Ort bequemer Filmrezeption. Das betraf vor allem die Bestuhlung, sie war funktionalistisch, hart und schwarz. Dem Cineasten ging es um die Qualität der Bilder, aber selbst die waren nicht immer leicht verdaulich.

Stalker war für mich der zweite Film, den ich von Tarkowski sah. Ein paar Tage zuvor hatte ich Solaris gesehen. Nach Stalker sollten noch zwei weitere Tarkowskis folgen. Ich hatte nur eine vage Ahnung, was mich erwartete. Kaum begann der Film, gab es kein Entrinnen mehr. Ich wurde gebannt, aber doch so, dass mein Körper heftigste Signale an das ohnehin schon mit wuchtigen Eindrücken überflutete Hirn sendete. Die Zeit wurde mir einerseits unendlich lang, anderseits kam sie unglaublich nah. Der Film war jede seiner retardierenden und das Geschehen unendlich in die Länge ziehenden Minuten, ja, Sekunden wert. Tempo und Eindringlichkeit entsprachen der Halbwertzeit von verstrahltem Uran. Am Ende war ich überzeugt, dass alle schwarzen Löcher des Universums im Grunde aus grünem Tschernobyler Laubwald bestanden.

Es gibt also Dinge, die ziehen sich unendlich in die Länge, graben sich tief ins Unterbewusstsein vor. Dann gibt es wieder Dinge, die sind so überaus kurzweilig, jedoch voller Geschehen und Motive, dass man meint, sie wären extrem leicht, aber immens stabil wie intelligente Werkstoffe im modernen Fugzeugbau. So wie unsere kleine, intensive Reise zum Allianz D-Juniors Cup 2020 in Gransee.

Zweiundzwanzig Stunden unterwegs mit dem Team. Eine kleine Reiseform, mit der wir schon mehrmals großartige Erfahrungen gemacht haben. Ja, eine ansehnliche Sammlung von Siegerpokalen, aufgereiht auf einem Landhaus-Buffet, beworben von einer Miniatur-Programmkino-Anzeigetafel mit dem Titel "S.C. Berliner Amateur?" (Cogito ergo sum...) legt programmatisches Zeugnis von unseren spannenden Fußball-Fahrten ins Ruppiner Wald- und Seengebiet ab.

Ein ehemaliger Dorfgasthof, ein stiller See, etliche Apfelbäume, ein Kickertisch, eine verschmuste Katze und gefühlte vierzig Quadratmeter Matratzen-Landschaft - das ist die Ausgangsformel für die erstaunlichsten gruppendynamischen Prozesse, die man sich für eine Jugend-Fußballmannschaft vorstellen kann. Es kommen viele weitere annehmliche und teambildende Faktoren hinzu wie ein Dutzend praktischer Hocker, gut gekühlte Brausen und mindestens fünfunddreißig schwedische Würstchen im Brot, die sich mit Gurken, Ketchup und Röstzwiebeln zum abendlichen Gruppenspektakel verdichten. Nicht zu vergessen die große Scheune, in der das weltweite Verstecken-Anschlag-Spiel erfunden wurde und bei jedem Besuch in großer Perfektion neu zelebriert wird. Ein Highlight zudem jedes Mal der frühmorgendliche Weckruf zum Sechs-Uhr-dreißig-Jogging, gewissermaßen als unverlangtes Warmlaufen zum bevorstehenden Turnier, von den Spielern eigenständig organisiert und stets in großer Teilnehmerzahl durchgeführt.

Dieses Mal kamen wir in der Dunkelheit an, stillten sogleich den Hunger und setzten sodann zum obligatorischen Waldspaziergang Richtung See an. Erstaunlicherweise ist die Angst vor dem nächtlichen Wald kein fernes Relikt aus mittelalterlichen Märchentagen, sondern bei dem einen oder anderen Phantasten offenbar sehr lebendig. Taschenlampen, gutes Zureden und gesunder Menschenverstand nützen da wenig. Potentielle Blindschleichen werden zu riesigen Würgeschlangen, jedes Knacken im dichten Gehölz zu einem sprungbereiten Werwolf.

Statt die Lichter der Taschenlampen komplett auszustellen und den Wald im ruhigen Sternenlicht erkennbar werden zu lassen, schwenkten dreizehn nervöse Suchscheinwerfer immer panischer durch die Tiefe. Dabei dürften es eher die Tiere gewesen sein, die vor dieser lärmenden und Lichter schwenkenden Schar Berliner Amateure Reißaus genommen haben. Zur Steigerung des örtlichen Befremdens zogen die amaroten Nachtgestalten dabei ihren verletzten Torhüter im Bollerwagen über die Dorfstraße und die holperigen Waldwurzeln.

Aber gut, wenn die Imagination erst mal in Fahrt kommt, trägt es auch den gnadenlosesten Rationalisten schon mal gefährlich weit aus der Kurve. Also nahmen wir das Tempo raus und teilten den Tross in Gläubige und Ungläubige. Die einen stolperten, schlichen und rumpelten samt Wagen gespannt weiter bis zum See, die anderen kehrten in der Mitte des Waldes blass und zitternd zurück zum Haus.

So ein stiller See im abnehmenden Mondlicht hat etwas Sanftes. Es ist, als schaute man ihm bei der Lektüre der Nacht zu. Mit seinem großen dunklen Auge schmökert er in den Konturen des Waldrandes und der offenen Weite des Sternenhimmels. Man mag nicht mal einen kleinen Stein ins Wasser werfen, um ihn bei dieser Lektüre ja nicht zu stören. Weil er aber so herrlich massiv reagiert und einmal kurz gewaltig zu einem herüberblickt, tut man es doch. Der Rückweg durch den Wald ist dann meist schneller als der Hinweg. Auch dies ist eine eigenwillige phänomenale Wahrnehmung des Raumzeitgefüges.

Auch der Schlaf auf dem Land ist ein anderer, er ist gleich mehrere andere. Die einen fallen direkt in ihn hinein, träumen intensiv und groß, den anderen bereitet er eher einen luziden Film, der in seltsam ausgeblichenen Schwarzweiß-Tönen und lichtdurchlässigen Konturen über Stunden hinweg in den Schlafraum projiziert wird. Demgemäß sind die einen am nächsten Morgen eher ausgeschlafen, die anderen etwas übermüdet.

Leider kann man nicht permanent in höchster Intensität leben, jedenfalls ich kann das nicht, andere haben zweifelsfrei eine bessere Konstitution. Aber ab und an ist immer noch eine Höchstleistung drin. Und so hatte ich das Gefühl, dass auch die Mannschaft während des Turniers am nächsten Tag zwar müde, aber nicht völlig ausgelaugt war. Trotz kurzer Nacht und langer Nachtwanderung in den Knochen, ging sie insbesondere im Finale hellwach ins Spiel. In den drei Vorrundenspielen und im Halbfinale hatte sie mehr oder weniger elegant ihr fußballerisches Können abgerufen und dem zahlreichen Publikum auf den Tribünen dargeboten. Im Finale gegen den zweiten Anzug der D1 vom BFC Dynamo Berlin, der sich durchaus als Favorit wähnen durfte, drehte sie dann richtig auf. So gewannen wir zwar nur knapp mit eins zu null Toren, dies aber recht überzeugend, wie ich fand.

Die knackigen 10-Minuten-Spiele, in denen wir wie in der Vorwoche das Prinzip der zwei Teams in einem praktizierten, ließen das Turnier bereits um 14 Uhr enden. Wir steuerten ein Brandenburgisches Landgasthaus an, das mich persönlich in seiner ganzen Anlage und olfaktorischen Eindringlichkeit heftig an die dunkelsten Spelunken meiner Kindheit erinnerte. Da es der Wirtin gelang, uns innerhalb von fünf Minuten gleich drei Mal vor den Kopf zu stoßen, überließen wir sie ihrem ruhigen Samstagnachmittag und den drei Gästen dort. Beinahe hätten wir jedoch unsere Trophäe auf dem Tisch stehen lassen, zum Glück erinnerten uns die freundlichen Gäste an den großen Pokal und fragte sogar interessiert nach, woher er stamme.

Statt Schweinskotelett und Gänsebrust gab es dann eben sechzig Kilometer weiter, wie von den Spielern eindringlich eingefordert, Burger, Pommes und reichlich Verpackungsmüll am Stadtrand von Berlin, wo Raum und Zeit noch einmal ganz andere wahrnehmungstechnische Relationen eingehen.

Das Essen war ganz sicher nicht besser als auf dem fleischlastigen Land, der Service dagegen schon. Allein die Bestellung erforderte fünfzehn geduldige Minuten. Unzählige kleine Ketchup-Tüten für insgesamt zehn Euro füllten allein ein Tablett - da weiß man, womit Gewinne erzielt werden. Die Mannschaftskasse zahlte. Das Schlimme ist, viele Kinder mögen zwar vieles nicht, aber Fett und Zucker zieht bei jedem. An der Zapfstation ließ ich mir von einem Spieler erklären, wie man zu seinem Drink kommt. Am Kassentresen hatte ich zu meiner Verwunderung einen leeren Becher erhalten.

Am besten gefiel mir der finale Bon, der in etwa die Länge eines Fan-Schals hatte und durchaus wie ein konkretes oder dadaistisches Gedicht gelesen werden konnte. Einmal muss man so etwas mitmachen, anders kommt man nicht gut durchs Leben, da bin ich mir ziemlich sicher. Als süße Nachspeise wurden dann die am Vorabend einkassierten Smartphones wieder an die Spieler ausgeteilt. Wenn mich jemand fragt, woran wir eines Tages zugrunde gehen werden, dann nicht unbedingt an der Erderwärmung, sondern eher an Einfallslosigkeit und tödlicher Langeweile.

Fazit: Nur die Harten kommen in den Garten - die Weichen werden zu Schleichen.

[SV Altlüdersdorf Allianz D-Juniors Cup 2020 / Sa. 18. Januar 2020]


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1. Platz
Es fuhren und spielten: Samy, Blerton, Noah, Kolja, John, Albion, Fynn, Timo, Luca, Bela, Feris, Arda, Levin



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