AMA II - TÜRKIYEMSPOR II
4 : 2
„Die schönsten Tore sind diejenigen, bei denen der Ball schön flach oben rein geht."
Mehmet Scholl
Das war´s! Die Rückrunde ist komplett, wir haben sehr gut abgeschnitten: Zwei Unentschieden, sechs Siege und ein Spielabbruch mit nachträglicher Wertung zu unseren Gunsten durch das Sportgericht. Abgesehen von dieser letztgenannten, wahrlich unangenehmen Begegnung, bei der die Emotionen am Spielfeldrand bedenklich hoch kochten, haben wir eine intensive, spannende und sehr schöne Zeit erlebt. Es stehen noch drei Turniere bis zum Saisonende an, aber für den Augenblick scheint die Luft etwas raus zu sein, nicht nur bei mir, sondern auch beim Team, wie ich heute feststellte.
Wir haben gewonnen, aber gleichzeitig wirkten wir müde. Insbesondere einigen Spielern, die sich in den letzten Wochen besonders intensiv am Training und an den Spielen beteiligt haben, merkte man eine Erschöpfung an. Atmen wir also durch und genießen den Moment!
Denn eines lässt sich jetzt schon sagen, hier spielt ein richtig guter Jahrgang zusammen Fußball. Wir werden regelmäßig gelobt von unseren Gegnern. Zwar wird dabei gerne der eine oder andere Spieler hervorgehoben, aber ich nehme das Kompliment immer stellvertretend für die ganze Mannschaft entgegen. Ich kenne die Qualitäten unserer Spieler, ich weiß genau, wo jeder Einzelne steht, ich könnte auch die jeweiligen Unterschiede aufzeigen. Aber darum geht es nicht: Heute haben wir alle vier Tore gemeinsam heraus gespielt – darum geht es!
Es ist egal, wer die Dinger macht, wenn doch nur alle gleich aktiv und intensiv am Torerfolg beteiligt sind. Und das sind sie! Denn ein Spiel entscheidet sich nicht auf den letzten fünf Metern. Würden wir danach gehen, hätten wir heute verloren. Von den zehn hundertprozentigen Torchancen, die wir heraus spielten, verwandelten wir lediglich vier. Der Gegner besaß nur drei Chancen, verwandelte davon aber zwei. Gewonnen haben wir, weil wir als Mannschaft besser agierten, weil jeder Einzelne im Team das in die Waagschale legte, was er kann und was er hat.
Die Treffer, die wir erzielen, sind eine logische Folge der Summe unserer Gesamtqualitäten. Freilich machen wir noch viele Fehler, ja, manchmal ist es sogar zum Haareraufen, zu sehen, was wir aus unseren Möglichkeiten nicht machen, wie wir leichtfertig, unkonzentriert oder zum Teil fahrig agieren. Aber zum Glück existiert das, was wir noch nicht können, genau auf diese Weise, wie wir es noch nicht können, denn sonst könnten wir uns nicht mehr verbessern und wir Trainer wären obsolet. Wer braucht noch einen Trainer, wenn er bereits alles kann?
Bevor wir also alle unsere Spieler bei den großen Vereinen anpreisen gehen, haben wir noch eine Menge zu tun. Und bis dahin werden wir auch noch oft genug einen auf den Deckel bekommen! Und zwar von Mannschaften, die, ebenso wie wir, nur kleinen Vereinen angehören.
Als ich in der F-Jugend spielte, lief auch gerade eine EM. Ich erinnere mich noch gut an Hoeneß` waghalsigen Versuch, per Elfmeter eine Taube vom Himmel zu schießen. Aber davon abgesehen war ich damals felsenfest überzeugt, eines Tages selber Nationalspieler zu werden. Ich erwähnte es beiläufig gegenüber meinem Vater, der mich daraufhin freundlich daran erinnerte, dass ich froh sein könnte, es einmal in die 1. Herrenmannschaft des städtischen Vereins zu schaffen. Die spielte damals in der Landesliga und war nicht das schlechteste Team im Umkreis. Ich winkte dennoch verächtlich ab: „Das ist ja wohl das Mindeste!“, erwiderte ich. Zumindest in dieser Beziehung war ich total normal und durchlief alle Phasen des Größenwahns.
Als Kind zielt man immer auf das ganz Große, und das ist auch gut so! Ohne Vorbilder, die bei mir damals Rainer Bonhof und Klaus Fischer hießen, wäre ich im prämimetischen Stadium stecken geblieben. Ich weiß zwar nicht, ob der Begriff wissenschaftlich verbürgt ist, aber ohne Vorbilder funktioniert das Nacheifern nicht. Und ohne Nacheifern gibt es keine Entwicklung.
Die Weissagung meines Vaters bewahrheitete sich. Knapp zehn Jahre später stand ich im 1.Herren-Trikot unseres Kleinstadtvereins auf dem Rasenplatz des Stadions und wurde von jenem Stadionsprecher angesagt, der auch schon einen Torschützen des Monats angekündigt hatte: „Mit der Nummer 11:“ … und dann kam mein Name, war das zu fassen?! Es waren schon nicht mehr ganz so viele Zuschauer auf den Rängen wie noch zehn, zwölf Jahre zuvor, aber immerhin spielte die Mannschaft noch in der sechsten Liga und zahlte jedem Spieler pro gewonnenen Punkt ein Handgeld von 40 D-Mark. Manche bekamen sogar mehr!
Es war wie ein Traum! Ich war als Siebzehnjähriger zum ersten Mal nominiert worden, eigentlich spielte ich noch in der A-Jugend. Aber weil einige Herren-Spieler verletzt waren, hatte man mich hoch gezogen. Ich konnte ganz gut mithalten, weil ich schon ein halbes Jahr lang bei den Herren einmal in der Woche zusätzlich trainiert hatte. Dennoch war das Tempo während dieser ersten Spiele, in denen ich offiziell mitwirkte, so rasant hoch, dass ich zu 90 Prozent aus Adrenalin und nur zu zehn Prozent aus mir selbst bestand. Ich spielte hoch konzentriert, ich wollte keine Fehler machen. Gleichzeitig rief ich alles ab, was ich konnte. Ich war schnell, wendig und fühlte mich von der Mannschaft gut aufgenommen. Das gab mir Selbstsicherheit, also traute ich mir etwas zu.
Es fanden zwei Begegnungen über die Ostertage `87 statt, der Aufstieg war noch in Reichweite. Ich spielte beide Male von Anfang an. Wir gewannen überraschend beide Spiele. Die zweite Partie war die spannendere: 6:2 im eigenen Stadion, ein Kantersieg! Ich war an zwei Toren maßgeblich beteiligt und holte einen Elfmeter heraus, man hatte mich bilderbuchreif von den Beinen geholt. Am nächsten Tag drückte mir mein Vater die Zeitung zum Frühstück in die Hand. Ich fand ein Bild von mir in Aktion mit einem Kommentar, der meine Leistung als „A-Jugendlicher“ hervor hob. Beinahe schüchtern und irgendwie entrückt ging ich daraufhin zur Schule. Ein Spiel später schoss ich mein erstes Liga-Tor und fühlte mich angekommen.
Ich spielte noch zweieinhalb Jahre mehr oder weniger glücklos unter drei anderen Trainern, dann verletzte ich mich. Das Rennen machte ein Anderer. Er war genau so alt wie ich und spielte all die Jahre im städtischen Konkurrenzverein, meistens eine Klasse tiefer. Auch er wurde früh hochgezogen in den Herrenbereich. Auch er war mit dem linken Fuß stärker, wenngleich er zweifelsfrei der bessere Spieler war. Am Ende überholte er alle, von denen ich jemals gedacht hatte, sie würden oder könnten es einmal in eine höhere Liga schaffen.
Ich lag mit Gips im Krankenhaus und staunte, dass die Mauer fiel, während er sich beim Liga-Konkurrenten für die Zukunft warm schoss. Damals hebelte man ein Knie noch komplett auf, um heraus zu finden, was mit den Kreuzbändern los ist. Bei mir war das vordere zur Hälfte durchgerissen. Der Arzt empfahl mir, mich besser ans Studieren zu halten, nicht mehr an den Fußball. Als der Gips nach sechs Wochen abkam, hatte ich nicht mal mehr die Motivation, zur Physio zu gehen. Ich traute meinem Knie und meinem Körper nicht mehr über den Weg. Das Knie fühlte sich an, als sei es einmal in der Mitte entzwei gebrochen. Nach vier Monaten Krücken und Reha bekam ich die Ferse immer noch nicht ans Gesäß, also hängte ich die Fußballschuhe an den Nagel.
Der Andere indessen entwickelte sich. Vier Jahre benötigte er, um von der Bezirksklasse in die zweite Bundesliga aufzusteigen und einen Profivertrag zu unterschrieben. Er hat noch lange und in verschiedenen Vereinen gespielt. Heute betreibt er eine Fußballschule und kickt in dem einen oder anderen All-Stars-Team gegen die versammelte Bundesligaprominenz. Er ist noch erstaunlich gut in Schuss, so weit ich das aus der Ferne beurteilen kann, beneidenswert.
Was ich damit sagen will: Keiner weiß, was morgen geschieht! Macht euch nicht verrückt, wenn ihr ein Supertalent entdeckt, bleibt auf den Boden, wenn ihr meint, jetzt sei die Zeit zum Abheben! Keiner kann vorhersagen, was wann wo passiert! Aber gebt euren Traum bloß niemals auf! Bleibt immer dran und verbessert euch! So oder so!
Ich kann übrigens immer noch Nationalspieler werden, ich müsste nur mal bei der Autonama anklopfen – so ließe sich der Kreis des Knieschadens vielleicht schließen, denn kaum spielte ich kein Fußball mehr, begann ich zu schreiben. Für dieses eine Spiel müsste das verdammte Knie doch noch halten! Hauptsache einmal den Adler auf der Brust, und am Ende Recht behalten! Aber in meinem Alter ist es besser, den Ball flach zu halten.
Siehe Hoeneß` 1976!
[9. SPIELTAG RR / SAMSTAG, 18. JUNI 2016]