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AMA / F2
SAISON 2015 / 2016

"WER BIST DU DENN?"

HÜRTÜRKEL fII - AMA fII

Spielabbruch in der 34. Minute

Wenn ich eines gut kann, dann per Ausschlussverfahren langsam herauszufinden, was ich eigentlich nicht gut kann. Ich bin zum Beispiel ein miserabler Schiedsrichter, denn ich übersehe versteckte Fouls und reagiere unverhältnismäßig, wenn ich plötzlich doch eines entdecke. Ich scheine von Natur aus nicht sonderlich berufen zu sein für dieses anspruchsvolle Ehrenamt – schon gar nicht in der F-Jugend.

Außerdem hat in meiner auf dem Kopf stehenden Kommandozentrale Wut manchmal das verkappte Sagen. Ich kann hochgehen wie eine Rakete und laufe herrlich rot an. Ich habe auch eine gewaltige Stimme, von der ich bis vor meinem Einstieg ins Traineramt nichts wusste. Es gibt zwar in der Welt noch ganz andere Kaliber, die viel lauter und drastischer abheben und weitaus gefährlicher sind als ich ansonsten friedliebender Schreiberling, aber die würde auch niemand bitten, als nichtneutraler Schiedsrichter in einer F-Jugend-Partie zu agieren. Stattdessen bittet man mich! Wahrscheinlich weil ich das perfekte Opfer bin.

Zum Glück gibt es weiterhin viele vorbildliche Seelentiger, an denen jede Form der Eskalation wie ein nass geworfener Waschlappen schlaff am Gesicht herab rutscht, worauf sie den Lappen lächelnd aufheben, kurz daran schnuppern und vergnügt feststellen: „Oh, lecker, Zitrone!“

Ich würde eine Menge dafür geben, solch ein Seelentiger zu sein. Aber ich bin verdammt noch mal ein emotionaler Sprengstoffgürtel und zugegeben ein sehr schlechtes Vorbild für clowneske Befriedung oder postmodernen Dada-Pazifismus! Für unartige, sich aus allem heraus windende und immer nur auf ihre Unschuld plädierende Kinder bin ich sogar eine akute Gefahr! Mein erweitertes polizeiliches Führungszeugnis mag zwar so unspektakulär daherkommen wie die weiße Weste des türkischen Staatspräsidenten, dennoch verfüge ich über ein bedenkliches Arsenal an potentiellen, winzigen und vor sich hin glimmenden Amokpatronen, die durch klitzekleinste Berührungen des sensiblen Ungerechtigkeitskitzlers in meinem Innern losgehen könnten. Aber, egal ob man sich nun zurecht ungerecht behandelt fühlt oder nicht, man sollte am Ende immer darauf achten, nicht selber in die Opferrolle zu schlüpfen!

Wie oft erlebe ich im Straßenverkehr, dass mir jemand die Vorfahrt nimmt, meistens ein Stärkerer, ein egoistischer und respektloser Autofahrer. Und immer wenn ich mich dann vom Fahrradsattel aus beim Vorfahrtnehmer kurz beschwere, bekomme ich in der Regel einen heftigen Beleidigungstzunami voller dunkelkehligen Beschimpfungsgerölls ab. Diese immer gleichen, einfallslosen Beleidigungen treffen mich zwar nicht wirklich, manchmal muss ich sogar über sie lachen, aber angenehm ist diese Erfahrung auch nicht. Am Ende stelle ich meistens fest, dass es für den einen oder anderen doch sehr schwer ist, einfach mal einen kleinen Fehler zuzugeben, so folgenschwer er auch ausgehen kann. Nicht jeder beherrscht die Kunst der Einsicht und Selbstkritik. Das scheint unabhängig von jeder Religion, Herkunft und Staatszugehörigkeit ein immensen Problem für viele Menschen zu sein.

Ich nehme mich selbst davon gar nicht aus, ich werde auch schnell laut, und vielleicht habe ich deshalb unbewusst über 16 Monate auf das Fahrradfahren in Berlin verzichtet und ging lieber zu Fuß, um nicht noch mehr zwischenmenschlichen Schaden anzurichten, wenngleich dieser durch das motorisierte Kraftgefälle auf den Straßen ohnehin vorgegeben ist. Es kann aber auch sein, dass ich nicht nur mich, sondern auch andere schützen wollte vor diesen plötzlichen, eskalierenden Übersprungshandlungen von Wut in meiner auf dem Kopf stehenden Kommandozentrale!

In eben solch einer Anverwandlung von auffliegender Wut stellte ich heute als kommissarisch eingesetzter nichtneutraler Schiedsrichter-Assistent einen wiederholt Foul spielenden Spieler der gegnerischen Heimmannschaft sechs Minuten vor Spielende für zwei Minuten vom Platz. Ich mochte nicht länger mit ansehen, wie alle paar Minuten einer unserer in die gegnerische Hälfte dribbelnden Spieler mehr oder weniger kompromisslos von den Beinen geholt wurde. Vier Minuten zuvor hatte ich denselben Spieler nach einer ähnlichen Aktion bereits eindringlich gebeten, fair zu spielen. Ich betonte ihm und seinen Mitspielern gegenüber, dass es in diesem Spiel nicht vordergründig um Gewinnen oder Verlieren ginge, sondern um faires schönes Fußballspielen und gegenseitigen Respekt. Die direkte Antwort auf diesen Appell erfuhr ich prompt anhand des großzügig ausgelegten Schiedsrichterballs, den ich spielen ließ und der, statt wie besprochen, bei uns, den Gästen, hätte landen sollen, stattdessen aber direkt in den Lauf des Außenstürmers gespielt wurde, der daraufhin ungehemmt auf unser Tor zu lief, um einen Treffer zu erzielen. Kann sein, dass ich da schon die Faxen ziemlich dicke hatte!

Dann das Foul und die Zeitstrafe und ein völlig verstört drein blickender Junge. Und dann plötzlich, wie eine Rakete aus dem Nichts, eine nicht mehr zu beruhigende Gegnerschaft. Das Spiel eskalierte. Anders gesagt, es kam zu keiner Fortsetzung mehr! Die auf den Platz stürmenden Verantwortlichen der Heimmannschaft sowie Teile des aufgebrachten Anhangs verdeutlichten mir umgehend, was sie von mir und meiner disziplinarischen Maßnahme hielten: „Wer bist du denn überhaupt?“

Ich antwortete, ich sei der vom Heimverein kommissarisch beauftragte nichtneutrale Schiedsrichter der Gastmannschaft und würde jetzt gerne weiterspielen lassen, aber nur, wenn sich alle beruhigten! Was nicht eintrat, weshalb ich nochmals, leider folgenlos appellierte, zur Ordnung zurückzukehren. Ich bemerkte keine Veränderung, kein Abschwellen des Aggressionspotentials, also brach ich die Partie kurzerhand ab: Iocus interruptus!

Die Spieler der Heimmannschaft brachen umgehend in Jubel aus, da sie meinten, sie hätten die abgebrochene Partie beim Stand von 3:2 gewonnen. Trotz dieses Jubels nahm man auf Seiten des vermeintlichen Gewinners bereitwillig schnell die Rolle des Opfers ein und drohte mir mit strafrechtlichen Konsequenzen wegen angeblicher Beleidigung eines Kindes. Mein erster Gedanke war: „Bitte, nicht noch eine weitere Staatsaffäre!“

Hatte ich das Kind zu laut des Platzes verwiesen? Hatte ich es tatsächlich übermäßig eingeschüchtert? War meine Disziplinierungsmaßnahme übertrieben? Oder benutzten die Erwachsenen der Gegenseite dieses vermeintlich zu hart angegangene Kind, den Sohn des Trainers, nur, um ihre eigene persönliche Verletzung, die sie durch die eigenmächtige Entscheidung des nichtneutralen Schiedsrichters erlitten hatten, zu kompensieren? Man hatte sie am Gewinnen gehindert!

Warum dieses prompte Drohen mit strafrechtlichen Konsequenzen, während das eigene unbotmäßige und womöglich unverhältnismäßige Verhalten auf dem Platz nicht einmal mit dem Hauch einer Einsicht bedacht wurde? Nun gut, man hatte ja auch nur wiederholtes Foulspiel begangen, wenn überhaupt, denn eigentlich ließen sich unser Spieler ja jedes Mal absichtlich fallen...

Die Sache landet nun vor dem Schiedsgericht und dem Fair Play-Beauftragten des Berliner Fußballverbandes. Im Anschluss an das Spiel bat mich die zuständige Staffelleitung, der ich von dem Vorfall berichtete, einen schriftlichen Spielbericht anzufertigen. Das tat ich, und wahrscheinlich droht mir jetzt von Seiten des Heimvereins eine zivilrechtliche Klage wegen Verleumdung oder Vereinsbeleidigung.

Doch offenbar scheint der Heimverein nicht das erste Mal durch sein unsportliches Verhalten in moralischen Misskredit geraten zu sein. Die Staffelleitung zeigte sich jedenfalls enttäuscht, sie glaubte den Verein auf einem Weg der Besserung. Ich kann nicht beurteilen, wie oft und in welcher Form es zu Schiedsgerichten kommt und was sie bewirken. Ich beteilige mich auch nicht an Spekulationen oder Vorurteilen. Ich hoffe auch nicht, dass der betroffene Verein nun durch diesen leidlichen Vorfall vom eingeschlagenen Weg der Besserung vollends abkommt oder sich gar radikalisiert. Aber ganz sicher mag ich es nicht, wenn jemand umgehend die Opferrolle einnimmt, nur um damit dem Griff an die eigene Nase zu entgehen. Wenn ich etwas partout nicht leiden kann, dann mangelnde Courage und fehlende Einsicht auf eigenes Handeln und eigenes Fehlverhalten!

Sollte ich etwas falsch gemacht oder das Kind übermäßig laut oder zu seinem Schreck vom Platz verwiesen haben, dann tut es mir aufrichtig Leid. Es steht mir absolut fern, einen achtjährigen Jungen erschrecken zu wollen. Aber ich halte es für legitim, auch ein Kind über ein wiederholtes Fehlverhalten aufzuklären, sogar wenn ich nicht sein Vater bin, aber vor allem dann, wenn dem eigentlichen Verantwortlichen diese pädagogische Funktion sowohl als Vater, als auch als Trainer aus welchen Gründen auch immer abzugehen scheint.

Wenn Erwachsene Kinder für ihre eigenen ehrgeizigen Zwecke benutzen oder instrumentalisieren, dürfen sie am Ende nicht verwundert sein, wenn diese Kinder nicht zu selbstbestimmten Wesen heranwachsen, sondern in einem fort Eigenverantwortung und Fremdverschulden durcheinander bringen.

Körper betontes Spiel hin oder her - wenn ein Kind während eines Spiels zu weinen beginnt, weil es sich wiederholt getreten, geschubst und beschimpft fühlt, ohne dass die verantwortlichen Erwachsenen am Spielfeldrand mäßigend einwirken, sogar stattdessen zu erhöhtem Einsatz auffordern, um ein Spiel auf Teufel komm raus zu gewinnen, dann hat die pädagogisch-integrative Funktion von Fußball ein dickes Problem, dann wird auch ein Schiedsgericht wenig daran ändern können, dass es offenbar elementare Unterschiede im Verständnis von Fairness, Leistung und schönem Spiel gibt – egal welcher gesellschaftliche oder kulturelle Hintergrund vorliegt.

Wer die Fairness im Sport nicht wertschätzt, verliert mehr als nur ein Spiel - der verliert sein Gesicht und damit jegliche Perspektive!

[3. SPIELTAG RR / SAMSTAG, 23. APRIL 2016]


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(1 x Luca, 1 x Fynn)
Es spielten: Leo, Eli, Levin, Timo, Jaron, Julius F., Julius T., Luca, Fynn, Kolja

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