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AMA / B1
SAISON 2023 / 2024

Vachement terrible

GRÜN WEISS NEUKÖLLN - AMA

1 : 12

Was mich momentan sehr beschäftigt, ist die Lernkurve meines Sohnes am Gymnasium. Er ist dort im vierten Jahr, doch die allgemeine Hochschulreife rückt ferner denn je. In seiner zweiten Fremdsprache hatte er bislang durchgehend ein Befriedigend, anfangs sogar ein Gut, nach einem Lehrkraftwechsel ist er nun gefährdet. Beim gemeinsamen Üben fiel mir auf, dass er nicht in der Lage ist, Haben und Sein im Präsens zu konjugieren. Wie kann man nach drei Jahren Französisch am Gymnasium eine 3 dafür bekommen, nicht zu wissen, wie man „je suis“ oder „tu as“ bildet? Was machen die da den ganzen Tag?

Seit meiner eigenen wahrlich miserablen Schulzeit, also mein ganzes Leben lang, habe ich vor allem eines gelernt: Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott! Ich möchte nicht abstreiten, dass es viele Menschen gibt, die sich von anderen wirkungsvoll und nachhaltig inspirieren lassen. Aber ich muss dennoch zugeben, keinem Arzt, keinem Frisör, keiner Vorstandsvorsitzenden und keinem etablierten System über den Weg zu trauen. Für mich sind menschliche Systeme so etwas wie untergetauchte Terroristen, sie führen ein Leben im Falschen (Adorno), bewegen sich dennoch unverschämt frei (Santer). Im Grunde ist man in ihnen seiner Freiheit beraubt; sie verkürzen, sie vergessen, sie grenzen aus, sie lassen gnadenlos fallen.

Das ist jetzt selbst sehr verkürzend, da Opfer meines Bequemlichkeitssystems.

Wenn man das Leben in seiner ganzen negativen Vielfalt kennenlernen will, sollte man so viele Systeme wie möglich ausprobieren und studieren. In manchen geht es einem direkt an den Kragen, in anderen erstmal nur an den Geldbeutel. Dort wird man vergiftet, gesteinigt und ausradiert, weil die Zeichnung oder das Denken zu spitz werden. Hier ist man lediglich zum rücksichtslosen Mainstream verdammt. In jedem Fall sind menschliche Systeme sich selbst generierende Hydren.

Ich erfreue mich jeden Tag daran, dass ich lebe, eben weil mir längst bewusst geworden ist, schon lange über dem Verfallsdatum zu sein. Einige meiner größten (frühen) Helden wurden wahrlich nicht alt, wirkten aber gerade deshalb für mich erstaunlich nach: Winnetou, Franz Kafka, River Phoenix. Ich bin mittlerweile knapp 500 Tage älter, als mein Vater je wurde, dümpele aber immer noch in einer Lebensform dahin, die jedweder Rentenversicherung spottet. Ich würde mich nicht wundern, wenn man mich fälschlicherweise für ein untergetauchtes RAF-Mitglied hielte. Oft genug liebäugelte ich ob meiner bürgerlichen Scheinexistenz mit einer Initiativbewerbung beim BND.

Im Schrank hat sich eine Menge beschriebenes Papier angehäuft, aber in Krisenzeiten dürfte der Batzen nicht mal für ein vierstündiges Feuer am offenen Kamin reichen. Ob ich ihn wirklich meinem Sohn vermachen soll, weiß ich nicht, er liest von Natur aus nicht gerne, das hat er - wie seine hervorragenden Schulleistungen - von seinem Vater geerbt. Es steht nichts Weltbewegendes oder Substantielles darin, aber jemand könnte vielleicht seinen Doktor in Psychologie oder psychopathologischer Soziologie darüber machen. Ich war, wenn ich das richtig sehe, der erste sogenannte Akademiker in meiner Familie, brauchte dafür einen mittellangen Anlauf. Wenn ich mein verstaubtes Vordiplom in Bauingenieurswissenschaften zum Magister in Literatur und Philosophie hinzulegen würde, hätte ich höchstwahrscheinlich eine Plagiatsguerilla am Hals.

Die Menschheit als solche mit meinem klandestinen Gekritzel zu beglücken, ist auch nicht so mein Ding (hier ausgenommen). Ich habe lange darüber nachgedacht, warum Kafka seine brutal geheimen Sachen nicht doch vernichtete? Ich glaube, dass es heute sowieso keinen Unterschied mehr machen würde, wenn er es getan hätte, da sie ohnehin von niemanden mehr gelesen werden, außer vielleicht gezwungenermaßen von einigen armen gequälten Insektenschülern am Gymnasium. Ihm, Kafka, wird dies seinerzeit schon klar gewesen sein, weshalb er den Kram einfach unversehrt im Schrank liegen ließ. Schon damals hieß es bei uns am Gymnasium: „Kafka? Die Verblödung!“

Ins Politische und Gesellschaftliche gewendet, sind die prekären Verhältnisse des Literarischen wie vom Kopf auf die Füße gestellt (Marx). Dort sind es tatsächlich ganz wenige, die den Laden für alle anderen sehr effektiv und vollständig versauen, allerdings unter großzügiger Zuhilfenahme einiger manipulierter und selbstverschuldeter unmündiger Massen. Ich nenne diese ungehemmten Biester der Selbstenthemmung die ungekämmmten Bestseller-Imperatoren (Milei)! Im Grunde gehöre auch ich durch meine hiesige, wenn auch nicht sonderlich profitabel ausgerichtete System(un)abhängigkeit zu ihrem erweiterten Massenspektrum. Ich für meinen Teil glaube daher nicht an irgendeinen Gott, aber noch viel weniger an irgendeinen Staatsmann oder irgendeine Staatsfrau. Das Theodizee-Problem ist meines Erachtens eine Art ontologisches Suchtproblem oder Suchtsymptom und lässt sich nur durch die Wegnahme des Suchtmittels lösen.

Neulich blickte ich nach einem meiner obligatorischen späten Supermarkteinkäufe nach dem Training in den Nachthimmel der Stadt und hatte eine kosmische Epiphanie. Ich sah eine Momentaufnahme der Ewigkeit und fühlte mich vollständig frei und aufgehoben und bis in den tiefsten Seelenwinkel meiner nackten Existenz mit dem Planeten verbunden, freilich brachte mich das nächste aggressive Aufbrummen eines getunten SUV-Motors in der engen Begegnungszone schnell zurück in die Wirklichkeit. Unter bautechnischen und soziologisch-historischen Aspekten sind Kathedralen zwar der Hammer – wie auch die Pyramiden. Und beim Anblick dessen, was der Mensch alles kann und weiß und bereits herausgefunden hat, schwindelt es mir sogar. Auf der anderen Seite graust es mir beim täglichen Lesen der Tageszeitung.

Wenn ich in diesem Augenblick tot umfallen würde, würde dies nichts am Klimawandel ändern. Am Lauf der Dinge und an der gewalttätigen Geschichte der Menschheit kann man, wenn man in ein System eingespannt ist, zwar wunderbar verzweifeln, aber nur wenig ändern. Es ist deprimierend!

Dieser Planet, diese Galaxie, dieses Universum sind wahrlich kein bisschen daran interessiert, ob ein um ein Tor falsch eingetragenes Ergebnis in das System der Landesliga-Tabelle irgendetwas an der Gesamtsituation verändert oder gar verbessert. Tut es natürlich nicht! Vielleicht habe ich mich auch nur verzählt (Mathe-Abitur: 3 Punkte). Jedenfalls haben wir die Zehn in dieser Saison zum ersten Mal geknackt. Was für ein Rausch!

[13. Spieltag / Do. 29. Februar 2024]


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1:12 (1:5)
( 2x Kolja, 2x Yasin, 1x Julius, 1x Ege, 3x Bela, 2x Julien, 1x (2x) Eddie )
Kader: Jamal, Luis, Jaden, Luca, Kolja, Ege, Bela, Jonas, Eddie, Julius, Julien, Theo, Timo, Levin, Felix.




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