Meteor-Herbst-Cup
6. Platz
Für einen kurzen Moment holte mich die Vergangenheit ein. Beim Verlassen des Sportgeländes im Anschluss an das Turnier kam in mir ein Gefühl hoch, das ich schon lange nicht mehr verspürt habe: Eine allumfassende Erschöpfung inmitten eines nasskalten, ungemütlichen Herbstnachmittages.
Diese Gefühl trat früher nur an entlegenen Orten und nach großer körperlicher Belastungen auf. Und es fühlte sich zweifellos subtiler an als jene akute Atemlosigkeit oder muskuläre Benommenheit, die einen nach sommerlichen Langstreckenläufen oder anderen schweißtreibenden Sporteinheiten ereilt. Es ist eine Après-Jeu-Erschöpfung, die einen direkt nach dem Verlassen der Kabine begrüßt. Es muss allerdings ein verregneter Sonntag-Nachmittag sein mit Gerüchen von moderndem Laub und einer Kastanienduft geschwängerter Luft. Das Gefühl kommt beim Trotten zum geparkten Auto auf und hält die ganze Rückfahrt über an. Es ist, als würde man von jemandem in den Arm genommen werden, den man zwar nicht kennt, aber auf Anhieb sehr mag. Eingequetscht zwischen anderen Spielern hockt man dann auf der Rückbank und starrt wie gelähmt ins Nichts. Ein paar Spielszenen noch im Kopf, ansonsten jede Menge verwischte Bäume und Häuser am Straßenrand. Ein durchaus wohliger Zustand der emotionalen und körperlichen Gleichgültigkeit.
Wie wunderbar, so durch Raum und Zeit katapultiert zu werden und in jene alte Stimmung zu geraten! Exakt so war es fast jedes zweites Wochenende: Rausfahren irgendwo aufs Land, irgendwo in die Stadt, zu einem Spiel auf fremden Platz, unter grauen Himmeln, schneidigen Winden ausgesetzt, mit eingefrorenen Händen Schnürsenkel lösend oder die schockgefrosteten Füße verfluchend, weil man ungerechter Weise die Reservebank drücken musste. Spielen, gewinnen, verlieren, sich umziehen, Sporttasche nehmen und mit Tunnelblick zurück zum Auto. Auf die Rückbank fallen und stumm nach Hause fahren. Den Montag schon im Nacken. Ach, herrlich!
Allerdings verlangt der Zustand mittlerweile anderen Tribut von mir. Der Aufwand ist ja auch nicht mehr exakt der alte! Zu Hause angekommen, musste ich mir sogleich eine Wärmflasche heiß machen, ich klemmte sie zwischen die Schenkel und fiel ungeachtet der frühen Abendstunde im Halbdunkel des Zimmers aufs Bett. In Nullkommanichts schlief ich ein und träumte mich irgendwohin, wo es mich als Wahlberliner noch nicht gab. Im Hintergrund vernahm ich noch, wie mein Sohn zu den Spielzeugkisten griff, um genau dort weiterzumachen, wo er morgens vor dem Abfahrt zum Turnier aufgehört hatte. Das Turnier schien ihn auf andere Weise erschöpft zu haben.
Mitte Oktober von 10.15 - 16.30 Uhr draußen auf einem unwirtlichen Gelände zu verharren, eine grausame Kälte langsam in sich hinein kriechen zu lassen, keinen trockenen Platz zum Hinsetzen oder Ausruhen zu haben, sich nur mühsam mit Plastikbecher-Kaffee bei Kräften zu halten, immer zum Smalltalk mit der übrigen Community gezwungen – für einen solchermaßen mehrstündigen Marathon des Turnier-Stehens bei Wind und Wetter gebührt vor allem unseren mitgereisten Eltern an dieser Stelle ein Ehrendenkmal!
Auch wenn das Turnier straff organisiert war und zwischen den Spielen kaum eine Viertelstunde Pause lag, verkürzte sich dadurch nicht die Zeit am Spielfeldrand. Der Spielfeldrand, das kann ich getrost als Tabellenführer der Reservebank sagen, ist ein Ort, an dem man unendlich viel Langeweile und Kaugummi findet. Solches, das ganz lange Fäden zieht und wahnsinnig klebt!
Deswegen sei hiermit in aller ideellen Form und viel dunklem Kandiszucker verziert die goldene Thermoskanne an unsere Eltern übergeben, die den gestrigen Marathon des Stehens so bravourös gemeistert haben! Ihr seid toll! Ihr seid wahnsinnig! Ihr liebt eure Kinder über alles! Freilich gibt es gelegentlich auch Haarsträubendes über eure Spezies zu lesen. Aber solcherlei subjektive Zuschreibungen treffen zum Glück nicht auf alle Eltern zu, und schon gar nicht auf unsere Eltern!
Für einen Trainer vergeht die Zeit ungemein schnell, man hetzt von einem Spiel zum nächsten, von Aufstellung zu Aufstellung, alle Kinder mehr oder weniger im Blick behaltend, jeden Spieler seinen Kräften und seiner Konstitution nach ausreichend zum Einsatz bringend, dabei nicht den Blick für den Gegner, den Turnierverlauf und das Turnierziel aus den Augen verlierend; Jacken einsammeln, Jacken austeilen, Fehler korrigieren, Gelungenes loben, mal hierhin eilen, um etwas zu klären, mal dorthin hetzen, um etwas zu holen – und schon sind fünf lange Stunden um und jenes schmerzhaft erlösende Gefühl von Auswärtsspiel-Erschöpfung tritt ein. Freilich muss es entsprechend kalt und ungemütlich sein, regnerisch und trübe – eben ganz so wie gestern.
Aber stimmt ja gar nicht, es kam ja noch die Sonne heraus! Denn man muss immer an das Unmögliche glauben! Und so haben wir ein für unsere Verhältnisse sehr gutes Turnier gespielt mit begeisternden Siegen und mehr oder weniger gerechtfertigten Niederlagen und einem durchaus vermeidbaren Unentschieden auf dem letzten Vorrunden-Spielmeter, welches uns um das krönende kleine Finale brachte. Am Ende wurden wir insgesamt Sechster von 16 Mannschaften und ließen einige große Teams wie Hertha 03 Zehlendorf und Tennis Borussia hinter uns. Das ist doch was!
Statt eines Pokals gab es eine wetterfeste Urkunde und eine Schachtel mit neun Schaumküssen – zwar etwas knapp bemessen für einen 10er Kader, aber im Grunde doch sympathisch und angenehmer als ein neuerlicher Streit um den klapprigen Blech-Pokal und wer ihn mit nach Hause nehmen darf. Einer verzichtete freiwillig auf seine Schaumkuss-Prise, und so ging das Prinzip der geschlossenen Mannschaftsleistung auch bei der Verteilung der Beute auf.
Allerdings frage ich mich, wie ein bestimmter Spieler es immer wieder schafft, bei der Siegerehrung die Gaben als erster in Empfang zu nehmen - und dies, obwohl ich ihn dieses Mal wohlweislich ganz ans Ende der Reihe beorderte? Ach, wenn sich diese Chuzpe doch mal für unser Spiel gewinnen ließe!
Aber jetzt erst mal ab in die Herbstferien!
[METEOR-CUP / SAMSTAG, 15. OKTOBER 2016]