picture
loading

AMA / D2
SAISON 2019 / 2020

Ich war (nicht) da!

Eltern-Kind-Traditionskicken

Sieben gegen Sechs

Ich hatte mal einen Gymnasiallehrer, der an Strenge und bürokratischer Einförmigkeit nicht zu überbieten war. Er unterrichtete ausschließlich Mathe und Physik und galt weit über alle Stadtgrenzen hinaus als personifizierter Schrecken der Schule. Äußerlich glich er ein wenig Friedrich Murnaus Nosferatu, aber sicherlich war er keine Verkörperung des Bösen, sondern eher eine bemitleidenswerte und wahrscheinlich auch einsame Seele. Dennoch machte er uns das Leben zur Hölle.

Eine besondere Vorliebe hatte er für logische Schlüsse und peinlich genaues Sprechen, weshalb er seine Tests auch meist in Form von auswendig zu lernenden Fragebögen konzipierte. Im Unterricht kommentierte er die von uns launisch dahin gesprochenen Alltagsfloskeln mit größter sprachlogischer Akkuratesse. Eine Bemerkung wie "Ich war leider nicht da!" kommentierte er gern mit der Formel: "Nicht da zu sein, das ist eine Frage der Existenz!" Meistens folgte daraufhin eine pädagogisch sinnvolle Benotung, die er laut vernehmlich in den Raum sagte und fein säuberlich in seine schwarze Kriegskladde übertrug: "Setzen, Sechs!"

Klappte bei einem Schüler ein Vorrechnen an der Tafel nicht, was der Regelfall war, kommentierte er gern mit: "Das ist Kokolores, tauch` unter!" Daraufhin kam der Sitznachbar an die Reihe, der zumindest für einen Augenblick die Hoffnung der Klasse auf sich vereinte, die Aufgabe lösen zu können, was sich jedoch selten erfüllte. Meist bestand der Auftritt in einem kurzen Gang zur Tafel sowie einem noch kürzeren Heben der Kreide mit einem anschließenden schnellen Untertauchen.

Ich könnte noch viele andere Anekdoten und wahrscheinlich ein ganzes Buch über diese zwei Jahre Mathe und Physik bei diesem außergewöhnlichen Lehrer schreiben. Obwohl total berechenbar, musste man bei ihm mit allem rechnen. Nur ein einziges Mal irrte er sich zu unserem Vorteil. Es war die Zeit, als wir an drei Samstagen jeden Monats hintereinander jeweils zwei Stunden Mathe und Physik zu absolvieren hatten. Um den einen freien Samstag im Monat auszugleichen, wurden die Stunden jedoch als ganze Stunden gegeben.

Bei dieser Variation der Schulstundenlänge kam der Lehrer eines Tages durcheinander. Er entließ uns eine ganze halbe Stunde zu früh aus dem Mathe-Unterricht. Wir wunderten uns, sagten aber nichts, bis nach einer Viertelstunde äußerst leisen Pausenverhaltens der gesamten Klasse im Atrium der Schule besagter Lehrer mit brauner Ledertasche erneut auftauchte und sich in aller Form bei uns entschuldigte: "Tut mir leid, Fehler vom Amt! Der Physikunterricht findet dann wieder planmäßig statt!"

Was für eine Erlösung, als ich in die elfte Klasse wechselte, obwohl ich mich in den zwei Schuljahren bei diesem Lehrer tatsächlich von 5 auf 3 in Mathematik verbessert hatte - dank vieler Fragebögen und den von mir fleißig auswendig gelernten Quadratzahlen von 1 bis 60. Was hat das nun alles mit unserem traditionellen Vorweihnachts-Kicken in der Rosa Parks Sporthalle zu tun? Nun, auch da ging es um die Frage der Existenz: Ist man da, auch wenn man nicht da ist? Besser noch: Warum war man nicht da, obwohl man da war?

Das klingt womöglich etwas verwirrend, aber in der Tat kann es sein, dass man zur gleichen Zeit an zwei verschiedenen Orten ist, förmlich aufgespalten wird in zwei Existenzen. So sind die einen zwar da, aber auch wiederum nicht, denn es fehlen die anderen, um das Ganze überhaupt erst zu einem sinnvollen Ganzen werden zu lassen. Wiederum kann es durchaus sein, dass zwar andere da sind und man selber sogar auch, aber eben doch nicht exakt im gleichen Augenblick oder an exakt gleicher Stelle (Heisenbergsche Unschärferelation), weshalb es nicht zur vollständig Deckung oder Bildung einer gemeinsamen Existenz kommt.

Beide Formen fallen unter den Begriff der Verfehlung, einmal im moralischen Sinne, das andere Mal im zeitlich-räumlichen Kontext.

Wie auch immer, so tauchten die einen also gar nicht erst auf zu unserem Traditionskicken, ein einzelner wiederum etwas zu spät, während die rechtzeitig Aufgetauchten in existentieller Unterzahl in der Halle untertauchten und sich knapp zwei Stunden lang engagiert den Ball um die Ohren kloppten. Und was ist die Moral von der Geschichte? Genau, die hat gefehlt!

Immerhin scheinen alle Gebeine, bis auf mein unseliges Knie, gut durch den Vormittag gekommen zu sein. Das ist die Hauptsache!

[Kicken in der Rosa Parks Halle / Sa. 7. Dezember 2019]


***

Es kickten: Blerton, Arda, Noah, Kolja, Albion, Luca, Pancho, Bexhet, Robert, Micha, Umut, Stephan und P.

***

TABELLE ANSCHAUEN
EINBLENDEN / AUSBLENDEN