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AMA / E1
SAISON 2018 / 2019

Scheinbar Angekommen

SIchtung DFB-Stützpunkt

TEIL II

Dieses Mal blieb der Wettergott dem Sichtungstermin gewogen, alle Spiele konnten zügig und ohne Gewitterwalze zu Ende gespielt werden. Dem Gefühl nach war die Sache schneller beendet, als gedacht. Das lag aber auch daran, dass wir die erste Partie gegen den Lichtenrader BC völlig verpennten. In einer prekären Mischung aus Überheblichkeit und Schläfrigkeit kassierten wir gleich drei freche Gegentreffer und wachten erst zum Ende der Minipartie auf.

Unseren beiden Leihgaben an Anadoluspor wetzten die Scharte später aus. Leihgaben? Das Team war, man glaubt es kaum, unterbesetzt zum Sichtungstraining erschienen und bat bei uns um Verstärkung, die sich bereitwillig fand. Ein echter Fußballer scheut kein Fremdmannschaften-Abenteuer - im Gegenteil! Man kann das natürlich auch als raffinierten Schachzug betrachten, sich von anderen abzuheben. Unsere beiden Leihgaben wurden dann auch sofort unter Vertrag genommen. Bei Anadoluspor. Allein über die Ablösesumme wurden wir uns nicht einig.

Vorgabe der DFB-Trainer war, die Jungs einfach spielen zu lassen. Aber gerne doch! Wie erholsam und entspannend solch ein Abgeben der Verantwortung sein kann, eine herrliche Abnabelung. Endlich konnte ich einmal an der Seitenlinie in aller Ruhe beobachten und genießen. Einfach abwarten, was geschieht. Wenn ein Spieler Kokolores produzierte, dachte ich, auch gut. Wenn er schöne Aktionen auf den Rasen legte, schaute ich hinüber zu den Trainern in Schwarz, ob sie etwas in ihr Notizheftchen schrieben. Insgesamt sah alles ganz gefällig aus. Dennoch war ich mir nicht sicher, nach welchen Kriterien die hohen Richter am Ende entscheiden würden.

Wir Trainer sollten die Urteile dann später mannschaftsintern vollstrecken und uns am besten noch gleich ein Rehabilitationsprogramm für den einen oder anderen Gescheiterten einfallen lassen. Urteilsbegründungen jedenfalls sollte es nicht geben, nur vollendete Tatsachen, vor die die Aspiranten gestellt werden würden. Auch nicht gerade echt westmännisch, aber jut.

Letztlich wurde fast die ganze Mannschaft zum nächsten Termin eingeladen. Dort wird erneut gesichtet und der große Bruch noch einmal gekürzt. Wer ein Ticket für den nächsten Termin bekommen hat, ist also noch lange nicht durch. Oder noch lange nicht drin, wie man es nimmt. Zwei Spieler wurden nicht eingeladen, und ich kann es sehr gut verstehen, dass sie darüber sehr traurig waren, sich aber auch sogleich sehr tapfer zeigten. Auch ich war traurig und musste bei der Übringung der Botschaft sehr tapfer sein. Aber ich denke, in zwei Wochen lässt der Schmerz bei uns allen nach. Im Training jedenfalls sah es schon so aus, als wären alle Spieler genommen worden. Das nenne ich einen wahren Sportsgeist.

Als ich zehn Jahre alt war, hatten wir einen Linksfußdribbler im Team, der uns beinahe alleine zur Kreismeisterschaft schoss und deshalb in die Kreisauswahl genommen wurde. Wir spielten 11er D-Jugend, Großfeld. So ganz begriff ich das damals nicht, was Kreisauswahl überhaupt bedeutete. Aber die Vorstellung, entdeckt zu werden, war natürlich ein enormer Herzschlagbeschleuniger. Manchmal hieß es, der oder der Trainer von den Roten stünde am Spielfeldrand zur Beobachtung. Da sah ich mich schon fast als Profi. Ich war, weil damals nicht nach Jahrgängen sortiert wurde, ein Jahr lang der jüngste, dann wieder der älteste Spieler im Team, jedes Jahr wechselte ich hin und her, es war schrechklich. Denn bei den Älteren hatte ich aufgrund meiner schmächtigen Körperkonstitution nicht besonders viele Anteile am Spiel. Ein paar kleine Törchen steuerte ich bei. Zum Training ging ich trotzdem gern.

Fünf Jahre später kam der Spieler nach einer mir bis heute nicht ganz verständlichen Abstinenz zurück ins Team. Ich glaube, er war eine gewisse Zeit in den USA gewesen. Ich war nun wieder der Jüngste, aber meine Gene hatten mir über die Jahre eine rasante Geschwindigkeit auf den Beinen und auf der linken Außenbahn beschert. Und am Ball war ich ob des vielen Straßenkickens und Trainings auch nicht ganz so schlecht entwickelt. Den Dribbler von damals überlief ich nun ohne Probleme. Dass ich sofort einen Stammplatz erhielt und die zweitmeisten Tore im Team schoss, hatte ich aber auch dem Vertrauen eines neuen Trainers zu verdanken, der mich gleich zu Saisonbeginn als Linksaußen setzte.

Dabei hatte ich vor den Sommerferien noch offiziell meinen Abschied vom Fußball verkündet, um mehr Zeit mit meiner ersten Freundin zu verbringen. Peinlicher Weise kam ich damit nicht mal bei meinem Fußball begeisterten Lehrer durch, der mir seit geraumer Zeit gewogen zu sein schien. Zu Schulanfang fing er mich direkt in der ersten großen Pause ab und stellte mich völlig unverzagt zur Rede.

"Ich habe gehört, du willst mit dem Fußball aufhören?"
"Ja."
"Du gehst morgen zum Training, ich habe schon alles geregelt!"
"Na gut."

Ich ging, und ab da an lief alles wie am Schnürchen, na ja, fast alles. Was ich damit sagen will: Natürlich funktioniert der Jugend-Fußball heute ganz anders als vor vierzig Jahren. Er ist weitaus anspruchsvoller, komplexer und vielfältiger geworden. Wir hatten damals einen einzigen Ball zum Training und zwei Tore ohne Netze, das war’s. Vom Material abgesehen, sind mittlerweile auch die Trainingsmethoden weitaus komplexer und ausdifferenzierter geworden. Aber im Grunde versucht man immer noch, die Gesetze des Straßenfußballs auf den Vereinsfußball zu übertragen. Nur eben auf einem höheren und organisierten Niveau.

Jeder weiß, dass zwischen D- und A-Jugend ein enormes Körperwachstum liegt, das alle vorpubertären Kräfteverhältnisse auf dem Platz erheblich verschieben wird. Ob ein Spieler als Zehnjähriger in eine zweite Sichtung der Bezirksauswahl eingeladen wird oder nicht, man kann davon nicht mehr ableiten als eine Momentaufnahme der sportlichen-fußballerischen Begabung des Augenblicks. Was in zwei Jahren ist, das weiß noch nicht mal der liebe Fußballgott. Es würde mich wundern, wenn mehr als 30 Prozent der Bezirks-Auswahlspieler Berlins im ersten D-Jugendjahr vier Jahre später immer noch die gleiche Prognose erhalten.

Gute Fußballer werden sie sicherlich, wenn sie dabei bleiben und regelmäßig trainieren, solide ausgebildet und gefördert. Aber ob es für mehr als eine gehobene Landesklasse reicht? Da rate ich zur Gelassenheit. Klar wollen Kinder alles haben, was auch ihre Freunde haben. Aber irgendwann hilft es jedem, zu kapieren, dass nicht alle Menschen gleich sind und die Welt nun mal aus Unterschieden, Entwicklungen und Verhältnissen besteht. Und je früher man da den Bogen raus hat, desto leichter fällt es einem, seinen eigentlichen Platz im Leben zu finden. Und um den geht es, nicht um den in einer Auswahlmannschaft!

[Sichtung DFB / 27. Mai 2019]


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Es nahmen teil: Samy, Albion, Blerton, Noah, Fynn, Feris, Kolja, Levin, John, Bela, Timo


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