Sichtung DFB-STützpunkt
Teil I
Um 9 Uhr vormittags rotierte Tief Axel wollüstig über Prag und hatte Unmengen feuchter Mittelmeerluft angesaugt. Nun hielt es stramm auf Sachsen, Thüringen und Südbrandenburg zu und wollte sich rumpelnd und heftig zuckend ergießen. Zunächst schien es, als würde Berlin verschont werden, doch dann drehte Axel bei. Zunächst waren es nur die äußersten Spitzen des nass getränkten und von Blitzen verzierten Wirbels, die auf der digitalen Landkarte des Regenradars über die Stadt wischten. Nichts Gravierendes. Die DFB-Stützpunktmaßnahme am Nachmittag, so schien es, würde stattfinden können.
Als ich um 14 Uhr die Wetterlage noch einmal checkte, sah es bereits anders aus. Da hatte sich ein großer Waschlappen aus dem Kernwirbel heraus gelöst und hielt in allerbester Ohrfeigengeschwindigkeit auf die Hauptstadt zu. Er würde uns mitten ins Gesicht treffen, nass und hart, leider im allerbesten Augenblick des für 17 Uhr angesetzten Termins!
Für ein schnelles Spiel reichte es dennoch am Nachmittag: 7 Amateure gegen 7 rotweiße Südringer, ein Spiel auf ein Tor: 10 Minuten Powerplay, kurzes Feld, engster Raum, schnelle Kombinationen, 2 Treffer. Dann wurde die Veranstaltung wegen des nahenden Gewitters abgebrochen. Innerhalb einer Stunde fiel so viel Regen vom Himmel wie im ganzen Jahr nicht.
Man kann sich das Glück nicht aussuchen, man hat’s oder man hat’s nicht! Glück bleibt jedoch relativ. Siehe Märchen: Am Ende hat der unbedarfte Hans nichts mehr, was ihn irgendwie beschwert. Anfangs ist es noch eine Goldmünze, so groß wie sein Kopf, schwer zu tragen über die weite Strecke nach Hause. So wird aus ihr bei der nächstbesten Gelegenheit ein Pferd, daraus wiederum eine Kuh, aus der Kuh ein Schwein, aus dem Schwein eine Gans, aus der Gans ein Schleif- und ein Feldstein, die Hans, so ungeschickt, wie er ist, beim Trinken an einem Brunnen in den Schacht plumpsen lässt. Dümmer und schneller kann man sein Hab und Gut eigentlich nicht verlieren. Aber Hans ist im wahrsten Sinne des Wortes erleichtert. Ohne unnötigen Ballast, mit leichtem Herzen, springt er freudig nach Hause zu seiner Mutti.
Was hat das Märchen mit dem DFB-Stützpunkt zu tun? Viel! Es gibt Trainer, die sich die DFB-Talentförderung bewusst vom Leib halten, weil sie meinen, sie habe nur negative Auswirkungen auf das Mannschaftswohl. Da ist etwas Wahres dran, jede Form der Auslese stiftet nun einmal Unruhe, das sehe ich ähnlich. Alles, was den Kitt einer Mannschaft von innen auflöst, verursacht Risse und Hohlräume, die sich früher oder später ausweiten und das Ganze zum Platzen bringen können. Dennoch halte ich die Wagenburgmentalität als Schutz vor solchen äußeren Einflüssen für übertrieben. Ich mag Western und Wagenburgen, aber noch lieber mag ich: mutige Indianer.
Indianer wurden allerdings nie gefördert, sie mussten sich immer selbst helfen. Sie hatten keine Anwälte, die ihre Rechte vertraten. Man haute sie übers Ohr, sobald ein vager Goldschimmer am Rande der Plains auftauchte. Ein Haufen verrohter, armseliger europäischer Auswanderer klaute ihnen das Land und machte sie im Namen Gottes, des Fortschritts und der Zivilisation platt. Die Indianer hatten wirklich allerschlimmstes Pech. Viel schlimmer noch, ihnen wurde großes Unrecht angetan. Sie hätten den Schutz und die Hilfe eines nationalen und internationalen Stützpunktes wahrlich gut gebrauchen können. Ich glaube nicht, dass sie leicht und beschwingt zurück zu ihrer Mutti gingen.
Kann man innerhalb einer zweistündigen Spielrunde mit sechs Mannschaften und rund siebzig Spielern ausführlich sichten und dabei treffsicher die größten Talente herauslesen? Ja, kann man wohl, aber selbst mit langjähriger Erfahrung und dem besten Fachwissen kann man nicht das Wetter vorhersagen. Eine Talentsichtung ist nichts als eine meteorologische Momentaufnahme auf dem Weg des Spielers ans Meer. Einige Spieler fallen ob ihrer erfrischenden Spielweise sofort auf, andere sind auch schon vorher durch besondere Leistungen aufgefallen, wieder andere halten sich noch bedeckt, kommen vielleicht erst später ins Rollen, dann jedoch umso mächtiger.
Wer einen Platz in der Stützpunktauswahl bekommt, kann sich sicherlich glücklich schätzen. Aber dieses Glück bleibt relativ und ist sogar ambivalent. Ambivalent, weil es im Fußball nicht nur um den Einzelnen geht. Jeder Mannschaftssport lebt davon, dass sich der Einzelne als Teil des Kollektivs betrachtet und versteht. Wie vielen Gruppen kann man gleichzeitig angehören? Und wie viele Mitglieder kann eine Gruppe getrost mit anderen Gruppen teilen?
Es liegt in der Natur des Menschen, sich oftmals für oder gegen etwas entscheiden zu müssen. Ein Trainer muss sich für eine Startformation entscheiden und dadurch automatisch gegen eine andere. Er hat damit etwas im Sinn, es geht um bestimmte Ziele, um Entwicklung und letztlich um Erfolg. Aber was ist Erfolg im Jugend-Fußball? Spiele zu gewinnen? Meisterschaften? Jedem gleich viel Spielzeit zu geben? Schwächere Spieler stärker zu machen? Oder Stärkere noch stärker? Kann man jedem Spieler gerecht werden? Kann man unendlich lange Spaß haben, ohne je ein Spiel zu gewinnen? Was ist der Sinn des Mannschaftssports? Individuelles Verbessern? Gemeinsames Erleben?
Im Fußball geht es nicht um beste Platzierungen allein, sondern um ein ausgewogenes Verknüpfen von Anspruch und Wirklichkeit, von Teilhabe und Selbsterfahrung. Was ist Glück? Was ist Gerechtigkeit? Warum sind nicht alle Menschen gleich?
In einem gutem Team zu spielen, einen netten qualifizierten Trainer zu haben, ein besonderes Umfeld zu genießen, ist schon mal ein sehr großes Glück. Nicht in die Auswahlmannschaft zu kommen, kann vielerlei Gründe haben. In einigen Fällen spielt Pech eine Rolle. In anderen vielleicht sogar Ungerechtigkeit. Jeder Mensch, jede Gruppe vertritt Ideale, hat Vorlieben, reagiert auf bestimmte Dinge, mag dieses, aber jenes nicht. Auch ein Fußballlehrer ist nicht frei von persönlichen Vorlieben. Er kann sich täuschen oder durch etwas getäuscht werden, er hat seine Philosophie und seine Erfahrung. Er kann sich irren. Jedoch besitzt ein Fußballlehrer großes Fachwissen, so wird er in den meisten Fällen richtig beurteilen, auch wenn der Laie es anders sieht. Doch selbst unter Fachleuten gibt es unterschiedliche Ansichten. Der eine Trainer würde diesen Spieler nominieren, der andere nicht. Nicht zuletzt geht es um Konzepte. Und die wechseln gerne mal je nach Großwetterlage.
Am Ende ist die Sichtung, ob erfolgreich oder nicht, eine weitere und leider auch manchmal sehr schmerzhafte Erfahrung für den Jugend-Spieler auf dem Weg zum Erwachsenen, aber auch eine Erfahrung für die ganze Mannschaft. Wie gehe ich als Spieler damit um, eingeladen zu werden? Wie gehe ich als Spieler damit um, nicht eingeladen zu werden? Was geschieht mit meinem Team, wenn ich mich gelegentlich anderswo fördern lasse? Welche Rolle im Team kann ich übernehmen, wenn ich nicht zu den Auserwählten gehöre? Wie können wir alle weiterhin eine Einheit und verschworene Gemeinschaft bilden, auch wenn wir nicht immer zusammen sind? Auf diese Fragen müssen alle eine Antwort finden.
Egal wer von unseren Spielern in der nächsten Saison am Stützpunkttraining (oder an anderen externen Maßnahmen) teilnehmen wird, ich werde mich für ihn freuen, aber gleichzeitig ein besonderes Bewusstsein für diese Erfahrung und Rolle einfordern - und zwar im Sinne der Mannschaft und nicht des Eigeninteresses des Spielers. Jedem anderen kann ich versichern, mich umso intensiver um ihn zu kümmern, damit er weiterhin mit Eifer und Spaß zum Training kommt und eine verantwortungsvolle Rolle im Team übernimmt.
Howgh, ich habe gesprochen!
[DFB-Sichtung Teil I / 20. Mai 2019]