AMA U15 - RSV Eintracht 1949 U15
3 : 1
Es macht einen Unterschied, ob ein Innenverteidiger einen durchbrechenden Angreifer mit Verve einholt und rustikal am Torlauf oder Torschuss hindert, oder ob ein körperlich überlegener Spieler an der Außenseite den Ball klärt, indem er den Gegenspieler per Schultercheck über die Rasenbegrenzung hinaus katapultiert. Im ersten Fall geht es um Fußball, im zweiten zwar auch, aber da noch um etwas mehr. Es soll der Gegenspieler nicht nur um den Ballbesitz gebracht werden, man will ihm nebenbei auch schaden.
Der Fußball, aber nicht nur er, ist voll von kleinen unsportlichen Attacken, die lediglich darauf abzielen, ein psychologisches Moment gegen den Gegner auszuspielen. Provozieren und Einschüchtern, nicht nur verbal, sind bewährte Mittel. Die Aktionen werden euphemistisch unter der Formel "sich Respekt verschaffen" subsumiert.
Es kommen viele psychologische Kriegsführungen zusammen. Ein sehr beliebt gewordenes Mittel ist die Opferrolle, die nicht selten von der eigenen Verfehlung ablenken soll. Meist zielt sie darauf ab, sich selbst Unschuld zu attestieren oder vom anderen eine Handlungsweise einzufordern, deren moralische Reinheit allgemeines Gesetz sein könnte. Das Problem ist, dass sie meist unverhältnismäßig daherkommt, sie will ausschließlich gelten, ohne Situation und Eigenanteile am Verschulden oder Werdegang einer Szene zu betrachten. Nicht das Ganze wird gesehen, sondern nur ein Teil davon.
Es war fünf Minuten vor Spielende, als einem unserer Innenverteidiger aus Frust über den erneuten Ballverlust nachgetreten wurde. Es war nicht die erste unfaire Attacke der Eintracht, auch hatte der junge Schiedsrichter seinen Anteil an der über den Spielverlauf zunehmend hitzigeren Atmosphäre. Vor allem aber der Gäste-Anhang brachte durch seine Kommentare und lauten Einwürfe von außen das eigentlich freundschaftlich und sportlich offene Spiel vollends auf die schiefe Bahn.
Nach dem Nachtreten schien sich etwas entladen zu wollen, was vorher schon deutlich zu spüren war: Frust über den Spielverlauf, Frust über manch unglückliche Schiedsrichterentscheidung, Frust darüber, ein Spiel zu verlieren. Ich lief auf den Platz, um unsere Spieler von den Gegnern fern zu halten, sie zu beruhigen. Ein gegnerischer Spieler drängte sich immer wieder vor, suchte etwas, das ich nicht verstand. Zunächst sagte ich ihm, er solle abschieben, einfach weggehen von unseren Spielern. Als er nicht nachließ, wurde ich lauter und gab ihm unmissverständlich zu verstehen, dass er sich verpissen solle, er habe hier nichts zu suchen!
Direkt nach dem Abpfiff kam sein Vater auf mich zu, ich solle mich bei seinem Sohn entschuldigen, ihn geschubst zu haben. Ich machte den Vater zunächst harsch darauf aufmerksam, dass er im Augenblick gar nichts auf dem Platz zu suchen habe, da er kein offiziell gemeldeter Trainer und Betreuer sei. Außerdem würde ich mich nicht für etwas entschuldigen, das ich nicht getan hätte. Mir kam die Galle hoch, denn wenn ich eines nicht mag, dann Scheinheiligkeit. Für den umgangssprachlichen Ausdruck, den ich gegenüber den Spieler verwendet hatte, konnte ich mich später zumindest beim lange am Platz verbliebenen und aufgeschlossenen Gästetrainer entschuldigen, der Spieler war leider bereits abgereist.
Als Verantwortlicher muss ich in der besagten Situation freilich anders reagieren: "Bitte geh, lieber Sportsfreund, provoziere hier nicht unnötig, bleib einfach auf deiner Seite!" Aber wahrscheinlich wäre der Vater auch dann noch auf mich zugegangen, um mich zu etwas zu nötigen, das sein wie auch immer verletztes Ehrgefühl gerettet hätte. Interessanterweise konnte er während des kurzen verbalen Schlagabtauschs nach Schlusspfiff gerade noch so von einer Tätlichkeit abgehalten werden durch hinzueilende Teamoffizielle der Eintracht. Ich war sicherlich selber schnell auf Hundertachtzig.
Sportrechtlich darf ich nicht grundlos auf den Platz rennen, aber mir schien, dass sich ein erwachsener Verantwortlicher in der heiklen Spielsituation zwischen die Gruppen stellen und sie voneinander trennen sollte. Der junge Schiedsrichter, den im übrigen keinerlei Schuld trifft, war mit der Situation überfordert. Solche Spiele sind wichtig auch für den pfeifenden Nachwuchs. Wenn Eltern und Erwachsene die jungen Sportler und Aktiven dabei nicht positiv unterstützen, brauchen wir allerdings nicht zu hoffen, dass demnächst überhaupt noch jemand die schwierige Aufgabe übernimmt, ein emotional aufgeheiztes Spiel zu leiten.
Später bekam ich am Rande mit, dass sich einige unserer Fans beim Gästetrainer über rassistische Kommentare und Einwürfe des Gästeanhanges beschwerten. Ich weiß nicht, was vorgefallen oder was genau gesagt worden war, aber ich hoffe, man hat auch direkt in der Situation die oder den Betreffenden persönlich angesprochen und erklärt, was man von rassistischen Sprüchen halte.
Was ist Spiel, wo beginnt etwas anderes? Dass beim Spiel Emotionen hochkochen, gehört zum Sport. Dass es Fouls, Nachtreten und andere Tätlichkeiten gibt, kommt vor und gehört ebenso dazu. Damit können wir umgehen. Dass Eltern auf den Platz rennen, ist ein sicheres Zeichen dafür, dass die Grenzen überschritten werden. Eltern haben auf dem Platz zu keiner Zeit vor, während oder nach dem Spiel etwas zu suchen, es sei denn, die Verantwortlichen fordern sie explizit dazu auf. Die Sportgerichte sind da übrigens sehr rigoros, die Strafen für Vereine empfindlich, wenn wieder einmal ein Elternteil meint, seinem Kind außerrechtliche Gerechtigkeit zukommen zu lassen. Wenn ein Trainer einen Jugendlichen schubst oder tätlich angeht, hätte dies nicht nur eine Sportgerichtsverhandlung zur Folge, sondern würde strafrechtlich verfolgt werden. Für falsche Behauptungen ist jedoch in beiden Fällen kein Platz.
Natürlich ist der Fußball nur ein Spiegel des Gesellschaftlichen. Und die kleinen Scharmützel des Beleidigten und Beleidigenden, des Angehenden und Angegangenen sowie die großen Arien von Wahrheit und Lüge, verfehlter Gerechtigkeit und emotionaler Kränkung sind Legion und werden in etwa so aufwendig vorgetragen und dargestellt wie Cookie-Consent-Erklärungen auf Websites. Einfach mal keine Daten sammeln, geht leider nicht mehr, deswegen müssen aufwendige Datenschutzbestimmungen aufgesetzt, abgefragt und eingehalten werden.
Es gibt diesen, wie ich finde, unguten Rebound individueller und selbstgerechter Rechts- und Moralauffassung, der als aufgesetzte und von sich selbst behauptete Unschuld daher kommt, ohne tatsächlich in entscheidender Situation für allgemeine und verbindliche Werte und Rechte einzutreten, eine Form der moralischen Heuchelei und strategisch angeeigneten Vorteilnahme.
Es ist zweifelsfrei sehr schwer, einmal einen Fehler einzugestehen oder seinem Sohn zu sagen: "Hör auf, andere zu provozieren, wenn du selbst in Ruhe gelassen werden willst!"
Ich nehme mich da wahrlich nicht raus.
[Testspiel / Sa. 18. Juni 2022]