Ballfreunde - Mini WM `22
4. Platz
Früher verschickte man Postkarten, wenn man verreiste, untrüglicher Beweis dafür, dass man an einem anderen Ort gewesen war. Ein paar Sätze oder Zeilen, unleserlicher Poststempel, exotische Briefmarken, regionales Motiv. Heutzutage gibt es Internet und es stellt sich die Frage, ob man überhaupt noch an einem Ort landen kann, wo einem vieles anders oder manches sogar ganz fremd vorkommt?
Nach Rostock im Regionalexpress ist keine Weltreise, die Strecke ist beliebt, sie führt durch das Löwenberger Land und die Müritzer Seenplatte. Manch alt eingesessener Brandenburger spricht von trampelnden Horden, die sich über die Naturschutzgebiete hermachen. Die Züge sind voll, seitdem das 9-Euro-Ticket zur Tagesreise lockt: Berlin-Warnemünde und zurück ist absolut denkbar, morgens hin, einmal in die Ostsee springen, später Backfisch bei Backfisch-Udo, dann zurück und der Tag ist komplett.
Wir quartierten uns ein im Hostel zwischen Meer und Stadtrand, in den ehemaligen Schubladen für die Werftarbeiter, nun Appartements für die Kurz-Urlauber. Zehnter Stock, ergiebiger Blick ins Land, Warnemünder Riesenrad, Kraftwerk, kleiner Bergrücken im Süden, das Meer jedoch leider verdeckt. Gemeinschafts-WC und Dusche auf dem Gang, dafür eine kleine Küche mit Kühlschrank in jedem Zimmer. Fenster über die ganze Breite, deren Bretter als Landeplatz für unerschrockene, an Menschen gewöhnte Möwen dienen, ziemlich groß vom Bett aus gesehen so ein Vogel mit stolzem Schnabel. Im Zimmer leider viel zu warm, ungesunde chemische Gerüche, nachts die dröhnenden Motoren getunter Privatrennsportler, die die Ausfallstraße für sich entdeckt haben, um das Gaspedal durchzutreten. Leben möchte man da nicht, für zwei Nächte lässt es sich leidlich aushalten.
Die Öffentlichen takten die Bewegung. Bus, S-Bahn, Tram. Aufspringen, abspringen, auf Anschluss warten. Maske nicht vergessen! Als Reisegruppe zieht man die Blicke zunächst auf sich, dann bekommt man auch mal Rückenansichten zu sehen. Meist sind insbesondere die Alten sehr hilfsbereit und neugierig sowie solche Menschen, die sonst niemand wahrnimmt. Andere mit breiten Rücken, kurzen Hosen und violetten Tattoos schauen gerne finster. Man spürt, wie man hier die gewohnten Abläufe aufstört. Für sie scheint jeder Gast eine Provokation zu sein. Oder ein gefundenes Fressen, um mal den Dicken rauszukehren. Stur und kantig auf Schulterchecknähe gehen. Ich wusste nicht, dass es in Rostock auch eine Uni gibt. Die Altstadt recht hübsch, alte Hanse eben, hat mal richtig gute Zeiten gehabt. Nunmehr wohl die besten noch vor sich.
Der Strand weiss und weit und kaum Steine, die Ostsee als Abkühlungsplatte dahinter. Auch nach fünfzig Metern kommt der Wasserspiegel kaum über den Bauchnabel hinaus. Rechtsseitig große Pötte, Fähren mit Hybridantrieb, aber dennoch schwarzer Rauchfahne. Am Kai eines dieser großen Kreuzfahrtschiffe, nicht unbedingt Titanic, aber doch ein gewisser Untergang, der von diesen Plattenbauclustern zur See ausgeht. Eisberge können ihnen nicht mehr gefährlich werden, dafür haben die Monstermotoren gesorgt, sind alle dahin geschmolzen, die weißen Riesen. Die Branche ist abartig, aber das Angebot trifft den Nerv einer bestimmten Sehnsucht nach Eigenem und Weltumspannenden. Mini-Campingschublade zur See, Traumschiff-Discounter mit eigens eingerichteter kosmomopolitischer Art-Galerie.
Eine Qualle ist natürlich auch ein Lebewesen, deshalb hat sie als paniertes Riesenschnitzel am Strand auch wenig zu suchen. Was aber sein muss: Warnemünder Sushi, Backfisch Udo! Frittierter Seelachs im Bierteig, dazu Zitronenlimo. Nicht nur die Touris stehen drauf, auch die Möwen, die ganz großen. Grandiose Jagdmethode: Opfer ausspähen, sich kurz auf dessen Kopf setzen, schon fällt das Brötchen mit dem Riesenfisch vor Schreck zu Boden. Zwei Dutzend gefiederte Piranhas, die die Beute in null Komma nichts im lauten Gezänk vollständig verputzen. Eine Art Vogelmob, aber gut organisiert. Darauf erst mal einen kräftigen Slushi, blauer und roter Zucker in Eiswasser gerührt.
Später im Hanse-Stadion zur Eröffnungsfeier noch eine lieblose Schale Penne mit einer Tomatensoße in der Konsistenz und aus der Geschmacksrichtung Curryketchup, dazu Rasen-La Ola von 140 eingeladenen Jugend-Fußball-Teams, die freilich erst mal wohl geordnet einmarschieren müssen, was so seine Zeit dauert. Aber toll, so mal auf einem Zweitliga-Rasen zu stehen! Reicht alles nicht, um für den Tag satt zu werden? Kein Problem, wozu gibt es Küchen auf den Zimmern und einen Netto auf dem Rückweg! Bratgeruch im riesigen Schubladenschrank, Hamburger, Speck, Eier, alles, was das Proteine-Herz so begehrt. Nüsschen. Draußen noch ein Trainerbierchen mit den Kollegen, Besuch lechzender Zonenrand-Mücken, dann ab ins Bett und in die laute, viel zu warme Nacht.
Spieltag 1. Vier Matches, drei gewonnen, einmal unentschieden, klare Anzeichen von Dominanzfußball. Turniersieg angepeilt. Schwüle, statt angesagter Regen, Teambanner an der Barriere befestigt, gehisste Ama-Fahne. Was soll hier schief gehen? Nach einem guten Dutzend Toren erschöpft zurück in die Residenz, kurz in den Supermarkt, zwei Stunden chillen, dann wieder hinaus in den Takt der Öffis, Richtung Altstadt, kleiner Rundgang, großer Sonnenuntergang, dann lecker Pizza für alle, im Takt des Ofens von Team-Hand eigens hinausgetragen als tatkräftige Unterstützung des unsichtbaren Tischpersonals. Die spätabendliche Bräterei im Hostel hält sich dieses Mal in Grenzen.
Spieltag 2. Banner gestohlen, hier überlebt man als Sprachspiel nicht mal eine Nacht. Klarer Sieg im letzten Gruppenspiel, Halbfinale erwartet, Finale angepeilt. Da geschieht das Unvorhersehbare, der Nordberliner Gegner mauert mit allem, was er hat, verteidigt geschickt die Null, wir spielen 24 Minuten lang auf sein Tor, bekommen aber den Ball nicht hinein. Auch beim anschließenden Elferschießen bleiben wir glücklos, zwei Treffer, zwei Nieten. Aus! Ironie des Schicksals: Der himmelblauweiße Vorrundengegner, den wir im ersten Spiel der Vorrunde mit sechs zu null abservierten, gewinnt das zweite Halbfinale und steht im Endspiel. Manchmal mag man Fußball, eben weil er so verrückt ist. Dieses Mal eher nicht.
Jetzt greift Plan B. B für Berlin. Abreise anberaumen, für eine zweistündige Pause bis zum Spiel um den dritten Platz fehlen uns Lust und Laune, also aufrödeln und schnell ab zum Bahnhof, einen frühen Zug erwischen. Der Zug steht eine dreiviertel Stunde vor Abfahrt bereits gut gekühlt bereit, fast so erfrischend wie ein blauroter Slushi von Backfisch-Udo. Plätze für alle, und schon wieder bricht die Maskenmoral ein, und genau dies wird ein Nachspiel haben. Das verloren gegangene Match schon weit hinter uns, ein eben dort verloren gegangenes Portemonnaie per SMS eruiert und gesichert, doch gegen Corona im Sommer 2022 in überfüllten Regionalzügen nützt auch kein Internet.
Bei Ankunft bereits zwei Positive, durch Schnelltest und Symptome am Abend verifiziert. Zwei Tage später sind es schon vier. Der Vierte leider bereits in Bremen auf Klassenreise unterwegs, muss abgeholt werden. Wie funktioniert das überhaupt? Im Zug? Im Auto? Im Taxi, wenn man kein Auto besitzt? Quarantäne-Flixbus?
Eine andere Art Souvenir an eine durchaus ereignisreiche Reise.
[Teamfahrt / Fr. 24. - So. 26. Juni 2022]