picture
loading

AMA / F1
SAISON 2016 / 2017

Spiel des Lebens

Zwei Mal Olympiapark und zurück

27. Mai 2017

Der Gang nach dem Aufwärmen in die Kabine, um die letzten mentalen und kognitiven Feinjustierungen vorzunehmen, ist ein schwebender Moment. Der Körper ist auf Betriebstemperatur gebracht, der Kopf mit den Gedanken bereits im Spiel. Die Spannung ist hoch, dennoch wirkt alles seltsam leicht und gelöst. Die Stollen klackern über die Fliesen des Kabinentraktes, ein dünner Film Schweiß liegt auf der Haut, es fühlt sich ein wenig so an, als würde man schweben!

Was immer da draußen auf dem Platz geschehen wird, es wird entweder verdammt weh tun oder wie ein Rausch über einen kommen. Hat man einen guten Tag erwischt, dann ist das gesamte Erfühlen des Spiels sowie die Ausrichtung der eigenen Taktmaschine, die über die Frequenz und die Intensität der eigenen Aktionen entscheidet, eine nicht aufzuhaltende Kraft. Die Konstitution entscheidet, doch so kurz vor dem Anpfiff lässt sich die Tagesform nicht mehr steigern, sie ist entweder da oder sie ist nicht da. Daher der schwebende Augenblick beim Gang in die Kabine, denn in ihm drückt sich Fatalität aus.

Hätte mir jemand am Abend zuvor gesagt, dass wir gleich zweimal zum Olympiagelände hinaus fahren würden, ich hätte vor Aufregung nicht schlafen können. Was hatten wir nicht alles auf die Beine gestellt, um ins DFB-Pokalfinale zu kommen, extra mit einem eigens realisierten Film bewarben wir uns beim Berliner Fußballverband! Dann das Drama einer plötzlich zurückgezogenen Ausschreibung und die verbleibende Hoffnung auf eine Zusage für das Junioren-Finale. Schließlich die Bestätigung und der interne Riss durch die Mannschaft, weil leider nicht alle Kinder nominiert werden konnten. Ja, und nun das! Plötzlich lagen da elf vergoldete Freikarten für das große Finale auf dem Tisch der schmucklosen Umkleide, in der sich die Kinder umzogen, um die U19 vom FC Carl Zeiss Jena aufs Feld zu begleiten. Der Tag sollte in eine unerwartete Verlängerung gehen.

Wer konnte das ahnen?

Um halb elf Uhr standen die Kinder im Kabinen-Gang des Amateurstadions. U19-Spieler für U19-Spieler kam an ihnen vorüber und klatschte die ausgestreckten Hände der Kinder ab. Die körperliche Präsenz der Spieler wirkte beeindruckend. Man konnte förmlich spüren, was es bedeutet, gegen sie spielen zu müssen.

Ich stand auf Augenhöhe mit ihnen, deswegen erlebte ich den Moment noch einmal anders. Denn natürlich erinnerte ich mich daran, selbst einmal in diesem Alter Fußball gespielt zu haben. Hätte ich mit ihnen mithalten können? Welche Fähigkeiten besitzt man als A-Jugendlicher? Was steckt in einem, wenn man achtzehn Jahre alt ist? Ich kann getrost zugeben, dass mir diese zum Teil einen Kopf größeren Spieler Ehrfurcht einflößten. Ich sah ihnen an, dass sie ausgewachsene Athleten waren. Dennoch hätte ich es gerne mit ihnen aufgenommen, dreißig Jahre früher natürlich, nur um einmal zu testen.

Die Atmosphäre innerhalb des Kabinentraktes war etwas Besonderes. Umso eigenartiger und fremder, wenngleich nicht weniger beeindruckend, fühlte es sich Stunden später im Stadion unter den 76323 Zuschauern auf den Rängen an. Freilich ist die Atmosphäre im Stadion überwältigend, man ahnt jedoch nur, welches fußballerisches Können auf dem Rasen zelebriert wird. Letztlich ist das Geschehen zu weit entfernt von einem, als dass es direkt unter die Haut geht. Mir jedenfalls erging es so. Das Ohren betäubenden Pfeifkonzert gegen das überflüssige Pausen-Medlay, das gespannte Sitzen auf den steilen Rängen, die frische Luft und die Abendsonne, die mir ins Gesicht schien, das alles hatte etwas Großartiges. Aber das Spiel selbst geriet in den Hintergrund. Die Tore schienen jedes Mal aus dem Nichts zu fallen.

Dortmund gewann das Spiel, die Frankfurter Fans siegten dagegen bei der Tribünen-Performance. Das choreografische Wogen und Wallen der Massen schluckte große Teile meiner Wahrnehmung. Der Rest wurde aufgebraucht von klebrigen Bierpfützen, einem exzessiven Freiluft-Raucher und einem skandierenden Fan eine Reihe vor mir. Was nehmen Kinder wahr in solch einer Situation? Was beeindruckt sie am stärksten? Ist es die Größe des Stadions? Sind es die vielen Menschen? Spüren sie die gewaltige Menge brodelnder Emotionen rund um das saftige Grün des Spielfeldes? Erkennen sie ihre Lieblingsspieler?

Fußballerische Details sind von der Tribüne nicht gut zu erkennen, da bringen die Fernsehkameras das Geschehen deutlich besser vor Augen. Dafür ist der Blick auf das taktische Verhalten der Teams hervorragend, welches wiederum im Fernsehen verborgen bleibt. Ein Spiel im Berliner Olympia-Stadion zu verfolgen, ist im Grunde das Gegenteil von fußballerischer Nähe. Dafür erlebt man das Raunen der Massen umso intensiver. Wenn ein Schuss gegen den Pfosten schlägt, hallt ein gewaltiger tausendfacher Stoß von den Zuschauerrängen wider.

Kurz bevor die Kinder aufliefen, stand plötzlich Horst Hrubesch neben mir, ein Held meiner Kindheit. Ehe ich mich darauf besinnen konnte, wie ich ihn am besten auf seinen entscheidenden Elfmeter im Halbfinale gegen Frankreich 1982 ansprechen sollte, kamen die Kinder schon an den Händen der U19-Junioren vom FC Carl Zeiss Jena auf das Feld gelaufen und ich wendete mich ihrem Auftritt zu. Dort standen sie in Reihe nebeneinander, die einen mit ernstem Gesicht und auf den Rücken verschränkten Armen, wie die Großen, die anderen etwas verschämt oder aufgeregt ob der ganzen auf sie gerichteten Wahrnehmung. Die Nationalhymne wurde gespielt, die Zuschauer standen brav auf, mancher legte seine rechte Hand aufs Herz und nahm den schwappenden Bierbecher provisorisch in die linke.

Horst Hrubesch hatte in dem legendären Halbfinale von Sevilla etwas wirklich Erstaunliches getan. Denn abgesehen davon, dass er die Deutschen ins Endspiel schoss, war es die Art und Weise, wie er den Elfmeter anging. Wer die Bilder von damals genau betrachtet (hier in einer interessanten Parallelmontage), wird erkennen, dass er sich den Ball nicht selber zurecht legt, sondern dass der Schiedsrichter dies für ihn übernommen hat. Hrubesch kommt majestätisch aus dem Mittelkreis geschritten und wirft lediglich einen kurzen prüfenden Blick auf den in der Kreide liegenden Ball. Zum Einverständnis, dass der Ball richtig liegt, macht er eine flüchtige zustimmende Geste zum Schiedsrichter, dann dreht er sich um, richtet sich noch einmal die Hose, läuft an und schiebt den Ball lässig ins rechte Eck. Tor, Sieg, Finale!

"Was haben sie damals gefühlt, Herr Hrubesch? Hatten sie keine Angst, dass der Ball in einer perfiden Kuhle im Rasen liegt?" Das hätte ich ihn gerne gefragt, aber da war er auch schon wieder weg. Dafür lief plötzlich der Bundesminister des Inneren, umringt von einer Eskorte von zehn Bodygards, direkt an unseren Sitzen, hoch oben in den höchsten Rängen des großen Stadions, vorbei, offenbar auf dem Weg in die VIP-Lounge.

Ich bringe Zeiten und Räume durcheinander, aber genau das verdeutlicht diesen außergewöhnlichen Tag am besten.

So hoch oben in den Rängen des Olympiastadions zu sitzen, hat etwas Irreales. Man kann in der Halbzeitpause genüsslich über die Brüstung aus dem Stadion hinaus in die Umgebung blicken. Ich sah einen markanten Wohnblock, der sich farbenprächtig aus dem Grün der von der Abendsonne beschienenen Baumkronen erhob. Zu seiner Rechten, klein und in der Entfernung, die weißen Hauben der ehemaligen amerikanischen Abhörstation auf dem Teufelsberg. Solcherlei Linien durch den Raum zu ziehen, das ist eher ungewöhnlich, das geschieht nicht an jedem Tag und gelingt nicht an jedem Ort.

Man erlebt Dinge, die auf der Zeitachse weit auseinander liegen, selten simultan. Aber manchmal stehen sie plötzlich in einem direkten Bezug zueinander und füllen sich mit Bedeutung, sie kristallisieren aus. Wie Spielszenen im Fußball, wenn sich plötzlich ein Raum auftut, in den man den Ball passen kann, um sich selber wieder frei zu laufen. Der Pass kommt zurück, die Chance ist da, es verbleibt keine Zeit, sich für oder gegen etwas zu entscheiden, man entscheidet intuitiv, wie man es unzählige Male trainiert hat, man nimmt den Ball und schießt, er wird getroffen, alle Bewegungen laufen zusammen, der Ball fliegt, er ist bereits auf dem Weg, er saust davon, dreht sich noch einmal leicht nach innen oder außen - und wumms ist er auch schon drin!

Fußball ist mehr als nur die Zuspitzung eines Augenblicks, wenngleich es während des Spiels genau darauf ankommt. Diese gegenläufige Bewegung von Dauer und Augenblick bewirkt einen immer währenden Reiz, dem sich wahrscheinlich niemand entziehen kann, der selber einmal durch die Schule des Fußballes gegangen ist. Man kann dem Event und Geschäftsmodell Fußball ganz leicht den Rücken zukehren, aber die persönliche Bindung und Beziehung zum Ball können einem nicht einmal FIFA, UEFA und DFB en bloc nehmen, auch wenn sie sich über die Jahre die allergrößte Mühe gegeben haben, den Sport in ein fragwürdiges kommerzielles Geschäftsmodell zu verwandeln.

Wenn ich die Wahl hätte, entweder für die restlichen Jahre unversehrt ein bisschen auf dem Körte kicken zu können oder noch einmal im besten Fitnesszustand meines Lebens, der knapp 30 Jahre zurückliegt, vor zehntausenden Zuschauern ein Finale zu bestreiten - ich würde, ohne zu zögern, das Kicken wählen!

[Pokalfinale / 27. Mai 2017]


***
U19-Pokalfinale:
Fynn, Levin, Luca, Kolja, Arturo, Ruben, Jaden, Oskar, Ion, Yaron, Gabriel

DFB-Pokalfinale:
Samy, Julius T., Arturo, Kolja, Fynn, Jaden, Ruben, Benny, Massimo, Uli, Stephan

***