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AMA / F4
SAISON 2015 / 2016

"KOMM, ZIEH DICH WARM AN, WIR FAHREN NACH HAUSE!"

LICHTENRADER BC 25 V - AMA IV

2 : 1

Rechnungen prasseln herein. Gasnachzahlung, Stromnachzahlung, Fernsehsteuer. 500 Euro Honorar kann ich diesen Monat verbuchen, aber das Geld ist noch nicht da. Also werde ich erneut die Reserven anzapfen. In eineinhalb Jahren bin ich, wenn ich so weiter mache, blank, habe aber immer noch eine Riesenwohnung an der Hacke, wenngleich kein festes Einkommen in Aussicht, um die Miete zu bezahlen. Website ist soweit fertig. Hätte sie heute gern den Eltern vorgestellt, doch das gestrige Spiel und die Scharmützel rund um das Spiel bremsen mich aus.

Vorwürfe gleich von zwei Seiten: Vom Trainerpartner und von einem Elternteil. Wieder wurden irgendwelche Eitelkeiten verletzt. Zwei unterschiedliche Denksysteme, zwei unterschiedliche Philosophien über das Aufstellen und das Führen und Begleiten von Spielern prallen aufeinander. Ein Spieler, der nach Meinung seines Vaters nicht ausreichend zum Zuge kommt. Das alles am Rande eines Spiels, bei dem unser Team in der ersten Halbzeit eine kollektive Schlafmütze auf dem Kopf trägt. Das altbekannte Phänomen: Vom Schulalltag ausgelaugte Kinder, kaum Konzentration übrig für eine taktische Anweisung, kaum Kraft in den Beinen für die Ausführung einfachster Übungen, keine Bewusstseinsreserve mehr für das Ereignis Spiel.

Und dann noch dieser lustige Gastgeber: Macht uns von Anfang an das Leben madig: Käfigkabine und geheuchelt freundliche Begrüßung. Denn die Wahrheit ist: „Wir haben da ein kleines Problem: Wir sind nur sechs Leute!“ Ja, toll, wir fahren hier extra zwanzig Kilometer raus, und die kriegen nicht mal sieben Spieler zusammen. Wollen also Sechs gegen Sechs spielen. Ich habe allerdings ein Team dabei, in dem jeder meiner Spieler abgezählt ist und so viel wie möglich spielen soll, das habe ich mir fest vorgenommen!

Was tun?

Ich überlege, ob einer unserer Spieler bei den anderen mitspielen könnte, so käme jeder auf 40 Minuten Spielzeit. Ich gebe den Vorschlag in die Runde. Ich sage allen deutlich, auch den Eltern, dass wir zwei Möglichkeiten besitzen. Abgeben und durchspielen. Oder zusammen bleiben und weniger Spielzeit bekommen. Ich kann bestens verstehen, dass niemand freiwillig sein Team verlassen will, und unseren Torhüter brauchen wir leider selbst, den kann und will ich nicht hergeben, auch wenn er sofort Feuer und Flamme ist für die verlockende Gastrolle. Ich will überhaupt niemanden hergeben! Aber was soll ich tun? Die anderen haben kein 7er-Team?

Wir entscheiden uns also dazu, in den sauren Apfel zu beißen und zu sechst zu spielen. Wir bügeln aus, was andere verpatzen, wir sind faire Sportsleute. Spielen wir also Sechs gegen Sechs, sieben Spieler werden abwechselnd das Nachsehen haben.

Ich unglaublich blöder, stumpfsinniger, leichtgläubiger, viel zu kompromissbereiter Vollidiot! Ich beiße mir in den Hintern, er ist schon ganz wund. Alle Scharmützel während des Spiels und nach ihm wären zu vermeiden gewesen. Ich hätte dem Gegner einfach nur sagen sollen, dass es mir entsetzlich Leid täte, aber ich könne nun mal keinen meiner Spieler dazu nötigen, länger draußen zu bleiben, als vorgesehen. Es ist nicht unser Problem, dass ihr kein vollständiges Team zusammen bekommt! Auch unsere Kinder gehen in die gebundene Ganztagsschule, auch unsere Eltern arbeiten bis 19 Uhr. Dann ist das heute eben so, an diesem eiskalten Dienstagabend in `uckn Lichtenrade, ein höheres Schicksal wird über diesem Spiel walten, wir werden einer mehr sein, ihr einer weniger! Wo ist das Problem? Ist doch mal ein Anreiz, in Unterzahl gegen eine reiselustige Gastmannschaft aus Kreuzberg anzutreten! Nur Mut! Wir sind keine Überflieger!

In Zukunft werde ich so handeln! Versprochen! Knallhart, smart, kompromisslos, alles nicht unser Bier! Von mir aus gehe ich bis zum Verfassungsgericht, aber ich spiele mit sieben Spielern, denn so steht es im Regelwerk, so habe ich es mir vorgenommen!

Zweite Halbzeit, wir liegen mittlerweile nur noch eins zu zwei zurück, wir erleben ein grobes Foul an einem unserer Offensivkräfte, noch nicht ganz Notbremse, aber nah dran. Unser Spieler wäre durch gewesen. So gibt es also Freistoß, ich dringe jedenfalls auf einen. Da ruft der gegnerische Trainerassistent allen Ernstes „indirekt!“ Indirekt? Bei einem direkten Foul? Es ist nur der miese, kleine, von außen einwirken wollende Versuch, unseren Schützen zu verunsichern. Der Schuss knallt gegen den Pfosten. Also auch bei den Freistößen kein Glück heute, verfluchter Dienstagnachmittag – ich hätte absagen sollen, von vornherein.

Am Ende des Spiels beschwere ich mich bei den gegnerischen Trainern über das Verhalten ihres ruppigen Spielers und insbesondere über das Verhalten des Co-Trainers, allen Ernstes auf indirekten Freistoß zu dringen. Die gegnerischen Trainer versuchen im blasierten Duett, das Foul zu relativieren, sie nennen es ein „Allerweltsfoul“. Ich laufe langsam rot an, jetzt blasen sie sogar kurzerhand das Acht-Meter-Schießen ab. Begründung: Aggressiver Gasttrainer! Ja, natürlich, ihr sitzt am längeren Hebel, moniert euch mal über einen „aggressiven“ Grundton. Hallo? Wer lässt denn hier seine Jungs wild durch die Gegend grätschen! Man könnte ja auch mal in die Runde werfen, dass man im Fußball nicht Foul spielt! Aber das sollen die Kinder ja eh unter sich ausmachen, wir spielen im besten Fall ganz ohne Schiedsrichter. Oh ja, im besten Fall!

(Alles klar Jungs, wenn ihr nächstes Mal gefoult werdet, tretet einfach zurück, von mir aus auch voll in die Eier, passiert doch eh jeden Tag auf dem Schulhof!)

Wo war mein Trainerpartner? Warum sprang er mir nicht zur Seite? Warum zog er mich nicht vor mir selbst schützend in den sicheren Kreis der Mannschaft zurück? Warum lagen während des Spiels überhaupt so viele Jacken wie Leichentücher auf dem eiskalten Boden? Habe ich den Trainerkollegen wieder in der Hitze des Spiels und der Vorbereitung komplett ignoriert, übersehen? Zu wenig mit ihm kommuniziert? Mit Absicht? Wo stand er während des Spiels? Habe ich ihn nicht bemerkt an meiner Seite? Warum intervenierte er plötzlich halb von hinten mit einer Pauschalkritik, statt einen konkreten Verbesserungsvorschlag zu machen? War es wirklich so, dass ich einige Spieler bevorzugt zum Einsatz kommen ließ, andere dagegen nicht? Welche Spieler genau? Und wie soll überhaupt gespielt und gewechselt werden bei einem Stand von Eins zu Zwei und einer just aufgekommenen Sturm- und Drangperiode der eigenen Sechs?

Spieler, die gerade am Zug sind, raus nehmen, weil sie im Vergleich zu anderen gerade zu viel Spielzeit bekommen? Spielzeiten grundsätzlich über Spielsituationen und Ergebnisse stellen? Von vornherein alles laufen lassen, wie es kommt? Nichts sagen, nicht eingreifen, nicht ins Spiel rufen, nicht intervenieren, auch nicht motivieren? Alle und jeden bewusst Fehler machen lassen, weil man aus Fehlern lernt? Den Kindern das Auswechseln selber überlassen?

Darüber wäre nachzudenken! Ich wäre jedenfalls der Letzte, der eine mutige Methode, die greift und Kindern das Fußballspielen beibringt, ablehnt! Mehr Demokratie wagen! Warum nicht? Vielleicht funktioniert dann alles viel besser und jeder fühlt sich nach einer solchen (internen) Niederlage nicht auch noch wie ein Treteimer. Wir können das ausprobieren, sehr gerne: Wir wechseln exakt nach Spielzeiten, Nominierungen und Trainingseinheiten ein und aus. Es wird noch während des Spiels upgedatet. Vielleicht könnten die Kinder sich sogar im Vorfeld selbst aufstellen? Die Kinder bestimmen, wann sie ein- und ausgewechselt werden! Die Kinder machen sich schließlich auch selbstständig warm, sie kennen die Übungen, also warum nicht?

Sie werden auch der Schiedsrichter auf dem Platz sein, der DFB begrüßt dies explizit, die ach so aufgeschlossenen Trainer von Lichtenrade ohnehin. Die Kinder können selber bestimmen, wann ein Foul geschehen ist und wann nicht. Sie bleiben am besten einfach stehen und fordern höflich einen Freistoß ein, wenn einer ihrer Mitspieler gerade umgesenst wurde. Falls der Gegner auch stehen bleibt, können sie mit ihm beratschlagen, ob der Freistoß direkt oder indirekt ausgeführt werden soll. Bleibt der Gegner nicht stehen, sondern spielt einfach weiter, muss man halt nach dem daraus entstehenden Gegentreffer verhandeln, ob der Freistoß nachträglich noch gegeben werden kann oder nicht.

Der Trainer guckt nur mehr auf die Uhr, er bleibt absolut still und im Hintergrund, er stellt sich schützend hinter seine Mannschaft, nicht mehr tobend an den Spielfeldrand. Er verhält sich zurückhaltend, er vertraut seinen Schützlingen, er darf jederzeit Lob aussprechen, er darf auch jeden Spieler während des Spiels individuell ermutigen, aber keine Tipps mehr geben, denn das hieße, Fehler, aus denen man lernt, nicht mehr machen zu können! Er darf nicht kritisieren, nicht verbessern, nicht verzweifeln, sich niemals aufregen, er darf sich allenfalls in seine virtuellen Fäuste beißen, sollte ein Spieler zum wiederholten Mal eine 100prozentige Torchance versieben! Die sieben Jungs auf dem Platz sind nicht die Verlängerung seiner eigenen Beine, das muss dem Trainer endlich klar werden!

Der Trainer organisiert weiterhin das Spiel, er kümmert sich um die Mitnahme und die Wäsche der Trikots, er gibt die von den Kindern in der Woche ausgehandelte Aufstellung kommissarisch in den E-Mail-Elternverteiler. Falls jemand wider erwartend oder kurzfristig nicht zum Spiel kommen kann, sorgt er in Rücksprache mit dem Spielerrat umgehend für Nachnominierungen. Er loggt sich vor jedem Spiel bei DFB.net ein und überträgt die Aufstellung akkurat in die Eingabemaske. Er vergibt der Fairness und Gerechtigkeit halber und zu seiner eigenen Arbeitsentlastung keine Nummern mehr. Er wird beim Berliner Fußball-Verband für ein Einheitstrikot mit der Nummer Zehn plädieren. Er bringt immer zwei, bis drei Spielbälle zu jedem Auswärtsspiel mit, damit die Kinder sich auch mit Ball warm machen können und nicht nur stumpf über den Platz traben müssen. Er achtet sehr genau darauf, dass diese Bälle nicht im Gebüsch von Lichtenrade liegen bleiben. Er kümmert sich weiterhin rechtzeitig um die Pässe, sortiert sie fachgerecht ein und aus der Mappe. Er pflegt ohnehin regelmäßig nach jedem Training, nach jedem Spiel die Trainings- und Aufstellungslisten, auch wenn diese nach dem neuen Aufstellungs-Prinzip obsolet geworden sind.

Er kommt jeden Dienstag und Donnerstag zum Trainingsplatz und lässt sich überraschen, wer wann wie oder ob überhaupt jemand kommt. Im Training wird der Trainer den Kindern einen ungefähren Eindruck von einem solventen, flexiblen Spielsystem zu vermitteln versuchen, leise, besonnen und emphatisch. Nebenbei wird er mit den einen ein paar Fang-den-Ball-Übungen absolvieren, mit den anderen ins Turbodribbling gehen. Er wird den Kindern jederzeit die Schuhe zubinden, er wird sie trösten, wenn sie ineinander rasseln oder wenn ein Spieler dem anderen absichtlich gegen das Schienbein tritt. Er wird sie wiederholt respektvoll darauf hinweisen, dass Treten, Spucken und Beschimpfen im Training leider nicht gelten, im Spiel aber könne man das individuell mit dem Gegner aushandeln, denn einen Trainer/Schiedsrichter gäbe es dort nicht mehr. Der Trainer wird in keiner Weise jemals in Versuchung geraten, seinen persönlichen Ehrgeiz, ein Spiel gewinnen zu wollen, anders als durch gemessene Höflichkeit und eine reaktionsschnelle Auffassungsgabe sichtbar werden zu lassen. Er wird ein Vorbild an einfühlender Charakterführung und akkuraten Umgangsformen sein, stets in AMA-Rot zum Spiel erscheinen und sich der andauernden vereinsinternen Diskussion über das Thema Breitensport versus Talentschmiede mit einer galanten Verbeugung entziehen, um ganz in innerer und äußerer Ruhe abzuwarten, welcher Spieler seines 34er-Kaders sich über welchen Zeitraum wie entwickelt.

Aber vor allem: Der Trainer wird immer und jederzeit das Recht der Kinder auf Selbstbestimmung verteidigen und schützen - gegenüber allen, sowohl den Eltern, als auch den Trainern!

Wenn in Zukunft einem Elternteil missfällt, dass sein Kind zu wenig zum Einsatz kommt, wende es sich bitte direkt an den Kinder-Mannschafts-Rat oder beschwere sich bitte unmittelbar bei jenen Spielern, die sich aufgrund höherer Trainingszeiten und individueller Stärken respektive Schwächen zu oft selber aufstellen und nicht freiwillig ihren Platz für andere freimachen! Wenn ein Spieler sich im Zweikampf verletzt und weinend auf dem Spielfeld steht, muss einer der Trainer es umgehend auf dem Feld trösten und sich so lange um es kümmern, bis es weiterspielen kann. Es kurzerhand auszuwechseln, damit es sich erholt, geht leider nicht! In der Zwischenzeit wird in passiver Überunterzahl weiter gespielt, es sei denn, ein Ergänzungsspieler tauscht sich selbstständig gegen den noch nicht vom Platz gekommenen Verletzen aus, nach der sogenannten Netzer-Notfallregel. Möglich, dass dann ein Spieler (und ein tröstender Trainer) zu viel auf dem Platz stehen werden, aber das können die Teams dann wieder unter sich ausmachen. Der Gegner, in diesem Fall die allerweltsfoulenden Spieler von Lichtenrade, können daraufhin auf indirekten Freistoß dringen, dieser wäre in dem Falle sogar der Regel konform.

Wir können das gerne so machen! Warum nicht? Es käme auf einen Versuch an! Ich bin dafür! Wer noch?

[SAISON 15/16 - 9. SPIELTAG - 24. NOVEMBER 2015]


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