IBCI Cup Großziethen
1. Platz
Im Grunde kratzen die Spielberichte nur einen kleinen Teil der Spiegelfläche frei, unter deren milchiger Interpretationsschicht die ganze Wahrheit der Spieltage verborgen liegt. Das ganze Bild lässt sich nie zum Vorschein bringen, meistens sind es nur Konturen und einige Details, die herausgearbeitet werden, stellvertretend für das Ganze.
Schade eigentlich, denn manchmal gibt es hübsche Beobachtungen am Spielfeldrand, die es durchaus wert wären, festgehalten zu werden - nicht nur um die Erinnerung zu verzieren, sondern um die ganze Vielfalt eines Fußballspiels oder Turniertages aufzuzeigen.
So ratterte während unseres Turniers in Waßmannsdorf ein Zug am idyllischen Landspielort vorbei mit etwa 100 geladenen, sandfarbenen Panzern. Eine derartig geballte Ladung Kriegsmaterial sah ich zuletzt vor 40 Jahren an mir vorbei zockeln, wenn die Nato-Streitkräfte zu ihren Herbstmanövern in die Heide aufbrachen. Ich frage mich, in welches Krisengebiet diese neuen Panzer unterwegs waren und wer von ihrem Verkauf profitiert?
In einer anderen Szene beobachtete ich zufällig, wie eine Mutter von einem über das Tor geschossenen Ball am Kopf getroffen wurde. Sie saß in einem Liegestuhl schräg hinter dem Gehäuse und wurde jäh überrascht. Offenbar hatte sie den Ball nicht kommen sehen, oder nur im allerletzten Augenblick. Der Ball traf sie nahezu frontal, ihr Kopf wurde heftig zur Seite geschleudert, da sie den Nacken nicht angespannt hatte. Man sah der Frau an, wie der Schmerz in den Nacken rauschte und von dort zurück in den Schädel, wo er lange nachhallte. Die Frau wirkte benommen, sie tat mir sehr leid.
Erst später wurde mir klar, weshalb sie den Ball überhaupt abbekommen konnte. Als ich an ihr vorbeikam (sie hatte den Liegestuhl mittlerweile etwas abseits gestellt), sah ich sie tief versunken auf ihrem Smartphone wischen. Ich musste ein wenig schmunzeln.
Ein guter Spielbericht führt im Hintergrund stets eine Leinwand mit, die in den Raum des Geschilderten hinein Bilder projiziert, die auf der wörtlichen Ebene gar nicht anzufinden sind. So ähnlich ist es mit den Spieltagen, die immer etwas im Gepäck haben, das auf den ersten Blick gar nichts mit dem Spielgeschehen als solchen zu tun hat. Am Ende aber wirkt alles auf das gesamte Ergebnis und Ereignis ein.
So werde ich mich immer gut daran erinnern, wie viele exzellente Torchancen wir in den ersten Spielen, aber auch in manchem Goldrundenspiel ungenutzt ließen, da wir das Tor entweder gar nicht trafen (sondern über es hinweg schossen) oder nur fulminant auf den Torwart zielten (als gelte es, ihn durchs Netz zu katapultieren). Gleichzeitig werde ich immer gern daran denken, wie mir ein Trainerkollege mitteilte, dass die von dem Betreiber aufgestellte Anlage des Schnelligkeitsschusses hinter der Spielfläche eine grenzwertige Sache sei. Das Gerät messe ziemlich willkürlich! Pro 3 Schuss müsse man aber einen ganzen Euro berappen.
Ich denke, zumindest bei jedem dritten Schuss maß sie richtig, ansonsten wäre es nur schwer zu erklären, weshalb einer unserer Spieler sich dort den Preis für den härtesten Schuss mit zwei anderen Spielern des Turniers teilen konnte. Als Preis wählte er ein Auswärts-Trikot der deutschen Fußballnationalmannschaft, während seine Konkurrenten sich für eine Nintendo-Konsole und einen WM-Fußball der Größe 5 entschieden. Auch dies ein Detail des Spieltages, das ich für hoch interessant und bedeutend halte, wenngleich mir wahrscheinlich niemand so recht folgen mag.
Aber auch die Ballgröße gehört zur Masse der erinnerungswürdigen Details dieses Turniers! Denn in Brandenburg, wo der Spielort lag, scheinen die Kinder größere Füße und längere Beine zu haben als in der Stadt. Anders ist jedenfalls nicht zu erklären, weshalb auf dem Land offiziell mit 5er Bällen im Kinderfußball gespielt wird und nicht mit Bällen der Größe 4 wie in Berlin, wenngleich die großen Bälle Leichtbälle sind. Aber dies könnte wiederum erklären, weshalb so viele unserer Torschüsse anfangs fehl gingen.
Ich werde dieses Ball-Detail sogar noch mit einem weiteren Detail verbinden: Große Bälle schwimmen besser! Wieder wird mir kaum jemand folgen können bis auf den eifrigen Balljungen des Veranstalters, der die vielen verschossenen Bälle aus dem kleinen sumpfigen Bächle hinter dem Sportplatzes fischen musste. Auch ich fand einen herrenlosen Ball dort, allerdings der Größe 4, der nun den häuslichen Bestand um eins erhöht.
Womit ich schon beim nächsten Detail bin in Form einer bodysnatchergroßen Wassermelone, scheinbar einer griechischen Karpusi, die unversehens auftauchte, weil eines unserer Elternteile sie mit zum Turnier gebracht hatte, zum allgemeinen Verzehr freigegeben. Ich sah diese enorme Frucht und dachte, hoffentlich ist auch an ein geeignetes Messer gedacht worden, um diese zehn Kilo Wasserfruchtbombe in ihre Einzelteile zerschneiden zu können? An dieser Stelle bin ich darauf angewiesen, dass mir jemand das Ende der Geschichte nachliefert, denn ich verlor die Melone leider aus dem Blick.
Denke ich an diese Melone, habe ich sofort die Ketchupschnuten einiger unserer Spieler vor Augen, insbesondere die schönste der verschmierten Fettschmausschnuten, nämlich die unseres neuen Mannschaftsglücksbringers Wille, der von unseren zehn Spielern en passant als Maskottchen annektiert wurde - ein Schicksal, dass Wille, da er der jüngste von gleich drei Fußball begeisterten Brüdern ist, nun schon in zwei Mannschaften zuteil geworden ist. Ich hoffe, er wächst seinen Brüdern schnell über den Kopf - fußballerisch hochtalentiert ist er jedenfalls jetzt schon, soviel konnte ich aus der Distanz erkennen.
Gerade von solchen Nebenschauplätzen lebt ein solch langer Turniertag, den wir völlig hochverdient als Sieger beschlossen. Die Spieler ließen Wille hochfliegen, und Wille wiederum schien dieses Hochfliegen großen Spaß zu machen. Spaß, den uns auch die fünf grandiosen Begegnungen der Goldrunde bereiteten, wenngleich es hier und da Tränen gab, seltsamerweise keine Tränen des Glücks über ein soeben gewonnenes Turnier, sondern Tränen der Enttäuschung: Jemand anderes hatte den finalen Strafstoß ausgeführt.
Irgendetwas ist immer!
Nein, man muss sagen, wir haben insgesamt ziemlich saftig abgeräumt: Zum Schnellschuss-Trikot und Siegerpokal kam noch eine Trophäe für den besten Spieler des Turniers hinzu. Der hatte bei uns nicht nur die meisten Treffer erzielt, sondern war auch viel gelaufen. Deshalb durfte er im letzten Spiel gegen den späteren Zweitplatzierten des Turniers auch komplett verschnaufen.
Zuerst fürchtete ich, der Gastgeber würde diese Maßnahme als Wettbewerbsverzerrung monieren. Aber wie immer lag ich mit meiner Befürchtung falsch. Unser Team gestaltete das Spiel durchaus lebendig und spannend und führte auch diese letzte der fünf Goldrundenpartien erfolgreich zu Ende. Gleichwohl werde ich nie vergessen, wie dasselbe Team, das am Ende wie selbstverständlich jubelte, ganz zu Anfang des Turniers, nachdem der Auftakt in die Hose gegangen war, wie ein Häufchen Elend vom Platz gekrochen kam und kollektiv den Kopf hängen ließ. Auch da schon sehr feuchte Augen!
Aber auch das gehört offenbar zu einem perfekten und am Ende glücklich ausgegangenem Turniertag hinzu! Man darf sein Ziel eben niemals aus den Augen verlieren, weder im Fußball, noch im Leben, noch beim Schreiben.
[IBCI-Cup Großziethen / Sonntag 3. Juni 2018]