AMA U15 - RW 90 Hellersdorf U15
6 : 0 (n. 1. HZ)
Bei einigen Serien, Filmen, den meisten Fernsehtalks und sicherlich auch bei einigen Fußballspielen käme es mir sehr entgegen, wenn die Sache abrupt nach der Hälfte endete. Der Verlust an Entertainment und Erfahrung hielte sich in Grenzen. Aber bei einem ganz normalen C-Jugendspiel in der Bezirksliga kommt mir ein absichtlich herbeigeführter Spielabbruch nach der ersten Hälfte eher zweifelhaft vor.
Dass man beim Halbzeitstand von null zu sechs Toren am liebsten das Handtuch schmeißen möchte, kann ich gut nachvollziehen. Auch ich habe schon mehrmals hoch verloren im Leben. Es ist sicherlich keine Freude, von einem anderen Team oder einem Gegner abgefertigt zu werden. Jeder Sportler kennt das, sogar einige Weltklasse-Kicker der Seleção durften solche Momente in ihrer Karriere schon erleben. Tut richtig weh, hinterlässt bittere Spuren und muss man erst einmal verarbeiten. Man darf aber Wettkampf mit Leben nicht verwechseln.
Das bewusste Aussteigen aus einer unangenehmen und vielleicht sogar grenzwertigen und sogar gefährlichen existentiellen Situation ist etwas ganz anderes als das schnöde Schmeißen des Handtuchs bei einem temporären sportlichen Misserfolg. Dies ist doch gerade der Witz am Sport: Dass er den Ernst des Lebens nur simuliert und somit ein handlungs- und erfahrungsorientiertes Modell für die eigentliche große Sache stiftet. Denn wenn ich im Spiel schon nicht aushalte, einmal haushoch unterzugehen, wie will ich dann eine echte Niederlage im Leben stemmen?
Kein Sport der Welt kann das Leben ersetzen, auch wenn der Sport für viele einen großen Teil des Lebens bedeutet, manche verwechseln beides sogar. Aber das ist gar nicht der alleinige Punkt. Es geht auch noch um etwas anderes: Durch den Rahmen des sportlichen Wettkampfes, durch die Regeln, durch das abgesteckte Spielfeld, durch die Akzeptanz des Schiedsrichters als judikative Gewalt und durch die vorgegebene Wettkampfdauer wird das emotional heftige und existentiell absolut tief unter die Haut gehende Erleben von Zeit und des mit ihr verbundenen Lebensmomentes im Sport von allen realen Übeln tatsächlicher Endgültigkeit und Dauerschädigung erlöst. Es ist eben nur ein Spiel und nicht das Leben, das dort gewonnen oder verloren wird! Das Leben selbst geht weiter. Und so nimmt man auch eher dauerhaften Schaden dann, wenn man plötzlich sein geliebtes Spiel nicht mehr spielen kann, da einem das Leben einen Strich durch die Rechnung macht. Lieber alle zehn Wochenenden einmal heftig verlieren als wegen kaputter Knochen gar nicht mehr auflaufen können - das ist jedenfalls meine Erfahrung.
Für genau diesen Zweck der Unversehrtheit wurde der Wettkampfsport übrigens vor langer Zeit erfunden, er sollte den Ernst der realen Blutfehde auf eine symbolische Ebene transponieren, auf der eine Niederlage nicht notwendig einen weiteren blutigen Rachefeldzug gegen den verfeindeten Gegner nach sich zog. Statt ständig neuer Tote gab es nun einen symbolischen Sieger, der seinen Sieg über den anderen feiern konnte, ohne gleich befürchten zu müssen, am nächsten Morgen mit durchgeschnittener Kehle aufzuwachen. Nun gut, Garantien dafür, dass sich der andere an die Regeln hielt, gab es freilich nicht, aber zumindest bewahrte man im Tod seine Ehre und wurde zum (tragischen) Held, während der feige Meuchelmörder sich zum Feind und Gespött der Welt machte: Wie? Du kannst noch nicht mal ein Wettrennen verlieren?
Kein Spiel der Welt kann freilich die Erfahrung des tatsächlichen Todes vorwegnehmen oder ersetzen. Jedoch können alle Spiele der Welt den Tod für einen Moment um seine gnadenlose Endgültigkeit bringen, ihn geradezu in karnevalistischen Manier auslachen, entwerten, degradieren und für nichtig erklären. Ist jemand tot, steht er nicht mehr auf. Hat jemand ein Spiel verloren, und sei die Niederlage noch so bitter, dann kann er daraus eine Lehre ziehen und tritt zum nächsten Spiel hoffentlich um einige Striche reicher an Erfahrung und Wissen an. Er stirbt oder vergeht nicht - im Gegenteil, er wächst und er steht auf!
Insbesondere diejenigen, die ein Team leiten und coachen sind eigentlich dazu da, die heftige Erfahrung einer hohen Niederlage in die richtige Bahn zu lenken. Denn selbst wenn man ein Spiel haushoch verliert, verliert man dadurch nicht seinen Arm oder seine Sehkraft oder was immer man im Leben alles unwiederbringlich und äußerst bitterlich verlieren kann. Aber selbst mit ramponierter Seele kann und sollte man weiterleben! Genau das müssen Coaches ihren Schützlingen beibringen - von Anfang an, vielleicht sogar als Erstes! Zu verlieren, auch haushoch zu verlieren, gehört zur Sporterfahrung notwendig hinzu. Man kann auch nicht einfach auf Mathematik oder jede andere zum Überleben wichtige Disziplin verzichten, nur weil sie einem entsetzliches Kopfzerbrechen bereitet. Wer nicht kämpft, der hat schon verloren! Fußball ist nur ein Spiel. Es ist nicht schlimm, einmal deutlich schwächer zu sein als jemand anderes, alles ist relativ! Über das Spiel und die Niederlage lernst du das Leben und seine oft genug absolut ungerechten Regeln sehr gut kennen, und das ist eine an sich gute, wenngleich oft auch schmerzhafte Erfahrung für dich! Nutze sie!
Einen Kratzer auf der Gemütsmembran mag es nach einer heftigen Niederlage freilich geben. Aber das geheimnisvolle Pneuma der Sportlerseele hat im Grunde die Langlebigkeit von Linoleum: Etwas Zeit und Luft - und schon verschwinden zumindest die kleinen bis mittelgroßen Kratzer und der alte Fußboden glänzt wie eh und je. Die Normanniacs nahmen die unzähligen Gegentreffer gar nicht mehr wahr, aber feierten jeden zur Ecke abgelenkten Schuss frenetisch! Respekt! Freilich hätten ihre Vereinsverantwortlichen sich längst schützend vor sie stellen und beim Verband rechtzeitig um eine leistungsgerechte Zuteilung in eine andere Spielklasse intervenieren müssen. Denn es kann freilich langfristig nicht das sportliche Ziel sein, Gegentreffer gar nicht mehr wahrzunehmen.
Ob ein Halbzeitpausenstand von null zu sechs Toren in einem C-Jugend-Bezirksligaspiel nun tatsächlich an die Gefährdung des Kindeswohls grenzt, wie die gegnerischen Trainer meinten, mögen die Fachleute besser bewerten können als ich. Mir war da viel zu viel Gepolter mit aufgeschnappten und angeeigneten Begriffen im Spiel. Das Argument des Hellersdorfer Trainergespanns kam mir eher bequem, selbstgerecht und vorgeschoben vor als realitätsnah und erfahrungstechnisch fundiert, aber wer weiß. Während des Spiels gewann ich jedenfalls nicht unbedingt den Eindruck, die beiden jungen Trainer würden sich allzu schützend vor ihre Schützlinge stellen, dazu war der Ton zumindest des Teamverantwortlichen einfach etwas zu laut und - wie ich fand - nicht positiv motivierend genug. Aber gut, das ist nun auch eine eher subjektive Wahrnehmung unter Coachingstilen, und ich selber schicke hier und da auch schon mal lange und tiefe Coaching-Pässe über das gesamte Feld.
Nein, dieses mit ernster Miene auf mich Zukommen der Hellersdorfer Trainer nach der Halbzeitpause kommt mir auch im Nachhinein eher fadenscheinig und vor allem spieltagstaktisch motiviert vor, weniger schutzbefohlen. Sie verlagerten das Spiel damit kurzerhand auf den grünen Tisch, falls es überhaupt ein Nachspiel geben sollte.
Ihre Jungs seien mental total demoralisiert und körperlich ramponiert, sagten sie. Man wolle an dieser Stelle das Spiel abbrechen. Ich verwies auf die armen Normanniacs und Libertas der Liga, die jede Woche abgefertigt werden würden, und insbesondere auf die tapferen Marzahner, denen es gegen uns gelang, nach fünf schnellen Gegentreffern über 50 Minuten lang keinen einzigen weiteren Treffer zu kassieren - eben weil sie sich sportlich und taktisch neu ausrichteten und nicht einfach aufgaben. Zweite Halbzeit, neues Spiel, es stünde null zu null! Das sei doch auch Anreiz und könnte ein sportliches Ziel sein, aus dem sich Positives gewinnen ließe. Es könnten auch Spieler von uns gerne bei ihnen mitwirken, wenn sie keine elf Spieler mehr aufbieten könnten. Wäre doch total schade um die zur Verfügung gestellte Spielzeit!
Nichts zu machen, die beiden blieben bei ihrer Taktik des Spielabbruchs. Gegenüber dem Schiedsrichter brachten sie dann eine lange Liste an Verletzten als Begründung für den Abbruch an - nicht mal da trauten sie ihren eigenen Argumenten vom gefährdeten Kindeswohl und der kollektiven moralischen Zerrüttung! Später fragte ich mich, ob sie gegen ein Team wie FC Bayern oder FC Barcelona - böte sich einmal die Gelegenheit - von vornherein nicht antreten würden, da allerschlimmste Linoleumkratzer zu befürchten seien? Hätten sie die Courage, auch gegen solche Teams und Vereine nach einer Halbzeit schnöde Tschüss zu sagen, wenn es nicht so gut liefe? Und was würden ihre Jungs dazu sagen? Danke, dass wir gegen Barca nicht spielen mussten!
Ja, hätten sie mal vor dem Schiedsrichter offen und ehrlich angegeben, dass ihre Jungs moralisch völlig am Boden gelegen hätten - vielleicht würde dann sogar ein progressiver Schuh daraus und wanderte direkt zu den Offiziellen vom BFV! Denn in der Tat finden auch wir es alles andere als erbaulich, dass wir in eine Liga geraten sind, wo ein Gegner nun schon nach einer Halbzeit einfach das Handtuch wirft, nur weil wir offenbar etwas zu gut für ihn sind. Abgesehen von der Wettbewerbsverschiebung, die mit solch einem Kneifen gegenüber den unmittelbaren Konkurrenten einher geht - und damit meine ich nicht uns oder unser Torekonto, sondern es wird in der Staffel ja nicht nur um den Aufstieg, sondern auch noch um den Klassenerhalt gekämpft.
Ich hätte absolut nichts dagegen einzuwenden, wenn man uns einfach direkt eine oder zwei Klassen höher einstuft, von mir aus auch im Tausch mit dem Tabellenletzten einer der beiden Landesligen oder besser noch: gleich hinein in die Verbandsliga. Wir würden uns einfach nach oben spielen und die Klasse schon halten. Kompletttausch von mir aus auch erst zur Rückserie: Punkte und Torverhältnis - nur der Vereinsname wird beibehalten. So könnte ein potentieller Absteiger zur Rückserie direkt wieder um den Aufstieg in dieselbe Liga spielen, während wir uns nicht mehr mit Teams herumschlagen müssten, die gar nicht erst gegen uns antreten wollen. Im Grunde eine Win-Win-Situation für alle!
Aber stattdessen wird dieser Ligavererbungs-Jammer wohl einfach so weiter gehen. Was geschieht eigentlich mit dem Rückrundenspiel gegen Hellersdorf? Müssen wir da noch raus fahren oder überschreiben sie uns die Punkte direkt im Vorfeld? Nur noch zehn Minuten spielen?
Eines weiß ich jetzt schon: Sollte es am Ende der Saison hart auf hart kommen zwischen Marzahn und Hellersdorf, dann schenken wir Marzahn drei Punkte und werden bei ihnen in allerbester Rotweiß-Manier einfach so abhellern ! Sprich, wir spielen dann eine Halbzeit lang so, dass wir zur Pause leider aufgeben müssen, weil wir total demoralisiert davon sind, ständig nur ins eigene, statt ins gegnerische Tor zu treffen.
Wie schrieb Charles Bukowski: "Man stirbt und stirbt, bis man tot ist."
[9. Spieltag / Sa. 6. November 2021]