SV Buchholz U15 - AMA U15
1 : 3
Als Kinder spielten wir oft ein Spiel, bei dem es darum ging, seinen Mitspielern in den Sand gezogene Territorien abspenstig zu machen. Jeder stand in seinem Flecken Erde und hatte ein etwa zwanzig Zentimeter langes dünnen Stöckchen oder Ästchen in der Hand. Nacheinander durfte nun jeder sein Stöckchen ins Gebiet des anderen werfen. Landete es dort unbeschadet, wurde in direkter Verlängerung des Stöckchens Gebiet vom Gegner abgeschnitten und neutralisiert. Der Gegner wiederum hatte das Recht, das zu werfende Stöckchen mit dem Fuß abzuwehren und es weit von sich zu bugsieren. Gelang es ihm, durfte er eine lange neue Territorial-Nase bis zum Landeplatz des Stöckchen ziehen und an sein bestehendes Gebiet angliedern.
Abgesehen vom imperialen Gestus des Spiels, bei dem es durchaus zu konkreten Landesbenennungen kam, war Geschick verlangt. Es galt zu täuschen, geschickt zu werfen, aber vor allem blitzschnell zu reagieren und mit den Füßen abzuwehren. Oft bildeten einige Spieler eine Allianz, um einen Dritten gezielt fertig zu machen. Meist war dieser zuvor sehr groß geworden, oder man mochte ihn an diesem Tag einfach nicht. Je kleiner der verbliebene Flecken, desto schwieriger war es, davon noch etwas abzukappen. Lange Eroberungsnasen wiederum wurden schnell einkassiert.
Ziel des Spiels war es, als letzter übrig zu bleiben. Meist blieb man jedoch nur deshalb übrig, weil alle anderen keinen Bock mehr hatten auf die Wurf- und Verteidigungskünste des sich anbahnenden Tagessiegers. Man ließ ihn in einfach in seiner sandigen Weltvorherrschaft stehen und ging zu etwas anderem über. Das Nasenspiel war ein kurzweiliger Zeitvertreib. Es steckte natürlich wahnsinnig viel zweiter Weltkrieg drin, wie bei fast allem, was wir den lieben langen Tag so spielten und taten. Ich hätte nicht gedacht, dass ich mich noch einmal so intensiv an das Spiel erinnern würde.
Wir mussten extrem früh raus zum Spiel nach Buchholz, sodass mich die offene Mitteilungsmail zur anberaumten Ukraine-Gedenkminute des BFV nicht mehr rechtzeitig erreichte. Abends sah ich die vielen schwarzen Armbinden in der Bundesliga, die sich die Fußballwelt immer schnell anlegt, sobald es Solidarität oder Trauer zu bekunden gibt. Man darf zwar keine politischen Plakate in eine UEFA- und FIFA-Arena mitbringen, aber ansonsten gibt sich der Profisport sicherlich nicht unbeeindruckt vom Weltgeschehen. Leider laden die fadenscheinigen Funktionäre der großen Verbände gern regelmäßig die Politprominenz zu ihren Mega-Events - beziehungsweise zeigen sie gern in ihrem Fan-Enthusiasmus auf der Tribüne eines Endspiels, wobei sich mir die Frage stellt, warum dies nicht den Tatbestand eines politisch motivierten Plakats erfüllt.
Mir graut schon jetzt vor der WM in Katar. Der FIFA muss man attestieren, bei der Wahl der Spielorte zuletzt kein gutes Händchen gehabt zu haben. Dieses Mal werde ich aus Protest nicht mal passiv an der Veranstaltung teilnehmen. Wer weiß, vielleicht findet die WM auch gar nicht statt. Das Privatfernsehen macht es mir seit Jahren leicht, den hochdosierten Profifußball auf Minimalflamme zu konsumieren. Ab und an eine dreiminütige Zusammenfassung einer Madrid-Niederlage oder des immer breiter werdenden Kloppo-Grinsens. Das war es schon neben der gelegentlichen Sportschau und dem einen oder anderen Pokalspiel. Gleichwohl habe ich nicht das Gefühl, etwas Großartiges, Wesentliches oder gar Völkerverbindendes zu verpassen. Es ist wie mit den Musikstreaming-Diensten: Dort gibt es die besten Sachen im reinsten Überfluss, aber es macht einfach keinen Spaß, seine Lieblingsplatten per Klick anzuhören.
Milan Kundera schrieb einmal: Das Leben ist anderswo. Am Ende meiner Adoleszenz war das ein Satz, an den ich nicht oft genug denken konnte, bald im Studium übersetzte er sich für mich zurück in Rimbauds Je est un autre. Unter bestimmten Existenzbedingungen ist Kunderas Satz nach wie vor eine Lebensrettung für mich. Gleichwohl würde ich mir wünschen, dass der Zeitgeist endlich mal im Realen, im Tatsächlichen und Gegebenen ankäme. Er sollte mal aufwachen in diesem Anderswo einer unglaublichen Wohlstands-Traumwelt, in der wir uns eingerichtet haben und den Verlust jeglicher nackten Existenzangst als den Normalfall betrachten.
Ja, das Leben ist tatsächlich anderswo, bestimmte Schmerzen kennen wir gar nicht mehr. Aber Dank des alten imperialen Nasenspiels rücken sie nun wieder näher an uns heran. Ob Demokratie und Freiheit je zu einem globalen finalen Siegeszug antreten werden? Schwer zu glauben bei all den Waffen in der Welt. Wäre feministische Außenpolitik eine Alternative? Ich fürchte, es gibt zu viele Altvordere in der Welt.
Wir mussten also früh raus, was uns mehr oder weniger gut gelang. Die Verluste hielten sich in Grenzen: Eine spontane Absage wegen akuter Krankheit, die Entdeckung eines vergessenen Trikots am Spielort (das erstaunlich schnell zur zehnten Spielminute nachgeliefert wurde), eine falsche Adressangabe, die einen Teil des Teams in die Irre führte und zu spät am Spielort ankommen ließ. Demgemäß war es eigentlich nicht verwunderlich, dass wir ausnahmsweise mal in Rückstand gerieten.
Buchholz machte es uns sehr leicht, konfus auszusehen und einige unserer besten Schwächen preis zu gegeben. Sie stellten sich tief hinein und verteidigten geschickt die Räume. Anfangs wollten wir partout keine langen Bälle spielen und versuchten es wie gewohnt mit Kombinationen und überhasteten Dribblings, mussten aber bald einsehen, dass uns an dem Tag die technische Genauigkeit, das Tempo und und der letzte Feinschliff fehlten. So fiel der Buchholzer Treffer zwar etwas überraschend, aber nicht aus allen Wolken. Er stellte uns schlichtweg vor eine neue Herausforderung. Wir verspürten das erste Mal in dieser Serie realen Druck.
Wir haben zwar ein kleines Punktepolster, aber der Vorsprung zu Hohen Neuendorf ist kein psychologischer Vorteil. Hohen Neuendorf muss lediglich jedes Spiel gewinnen. Wir dagegen dürfen uns keinen Ausrutscher erlauben, das ist etwas komplett anderes. Gleichwohl zeigten wir nach dem Führungstreffer der Buchholzer keine Nerven und glichen noch vor der Halbzeit durch einen sehr treffsicheren Schuss aus. Der Torschütze blieb auch kurz nach der Pause, als wir einen Elfmeter zugesprochen bekamen, ziemlich cool und zimmerte den Ball perfekt gegen die Sprungrichtung des Keepers hart ins linke Eck. Mit dem Vorsprung im Rücken fiel es uns leichter, zur gewohnten Sicherheit zurückzukehren.
Die Umstellung eines Innis auf eine Sturmposition hatte nach der Pause den nötigen Druck gebracht, um die Buchholzer zu knacken. Er war es, der gleich bei seiner zweiten Aktion nach der Pause im Strafraum zu Fall gebracht wurde. Dass er kurz vor Ende des Spiels unseren dritten Treffer markierte, krönte seine Leistung. Er und der Doppeltorschütze waren die Matchwinner. Gleichwohl verbesserte sich das gesamte Team nach der Pause und spielte druckvoller auf das gegnerische Tor. Gefährlich wurden wir uns nur selbst, wenn wir wieder einmal in der Abwehr zu unentschlossen oder übermütig agierten und dem Gegner Freistöße an der Strafraumgrenze servierten. Doch flogen die Bälle glücklicherweise über das Tor hinaus.
Dennoch, das Spiel war nicht unser Bestes, man merkte uns erneut mangelnde Frische an, die Füße gehorchten nicht dem Kopf, der Kopf nicht dem Wollen, unser Können war nicht auf der Höhe. Wenn die Räume eng werden, der Gegner gut gegen den Ball verteidigt, fehlen uns dezidierte Angriffsvariationen und wir müssen unser Glück ein wenig erzwingen.
Ich hoffe, der Ball rollt für alle Menschen weiter.
[16. Spieltag / Sa. 26. Februar 2022]